G20-Moratorium, aber die Privaten kassieren weiter – und was die Bundesregierung dagegen tun könnte

Am 25. Juni 2020 meldete der Vorsitzende des Pariser Clubs Guillaume Chabert zum Abschluss eines G20-Arbeitsgruppentreffens stolz, dass mittlerweile 41 von 73 Ländern, denen G20 und Pariser Club ein Moratorium angeboten hatten, dieses auch angenommen haben. Der Zuwachs über die bislang von der Weltbank dokumentierten 35 Länder hinaus sei auch dadurch zustande gekommen, dass die Gläubiger eine Einbeziehung des Privatsektors ausdrücklich nicht zur Bedingung für das Moratorium gemacht haben.

Rückblende in den April 2020: Bei der virtuellen Frühjahrstagung von IWF und Weltbank kommen die G20 Finanzminister überein, dass zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen von Covid-19 ärmere Länder zusätzliche Mittel benötigen. Diese lassen sich am besten dadurch mobilisieren, dass man Geld im Lande lässt, welches sich dort bereits befindet. Ein Moratorium aller öffentlichen bilateralen Schulden wird zunächst 77, später nur noch 73 IDA-qualifizierten und am wenigsten entwickelten Ländern angeboten. Der IWF beteiligt sich nicht am Moratorium, setzt aber ein eigenes Entschuldungsprogramm für eine kleinere Gruppe von Ländern um. Die Weltbank, deren Chef das Moratorium lautstark gefordert hatte, beteiligt sich überhaupt nicht.

An private Gläubiger – hauptsächlich Banken und Fonds – appellieren die G20, ebenfalls bis Ende 2020 Zahlungen zu stunden. Das Institute of International Finance (IIF), das Sprachrohr der großen privaten Anleger weltweit, signalisiert guten Willen, kündigt die Erarbeitung eines eigenen Moratoriums-Konzepts an. In der Folge geschieht – nichts. Zur Stunde ist kein einziger Fall bekannt geworden, in dem private Gläubiger eine Stundung ausgesprochen hätten. Im Gegenteil: Immer wieder weisen Banker und Fondsmanager darauf hin, dass ein Moratorium künftige Kreditaufnahmen verteuern könnte. Ratingagenturen lassen sich für die Message einspannen, und auch Finanzminister potenzieller Moratoriums-Kandidaten wiederholen sie, um ihre Ablehnung des Angebots der G20 zu begründen. Bis schließlich auch der Sprecher der öffentlichen Gläubiger, die ja gerade an den Privatsektor appelliert haben, sich zu beteiligen, sich auf diese Logik einlässt. Unmittelbar nach der Frühjahrstagung hatte Guillaume Chabert im Gespräch mit Nichtregierungsorganisationen sich über eine derartige Haltung noch echauffiert.

Öffentliche Haushalte verzichten also auf Forderungen, um ärmere Staaten bei der Eindämmung der Pandemie zu unterstützen, während private Gläubiger weiter kassieren. Mehr noch: Aus vielen Ländern, die auch vor Ausbruch der Pandemie schon am Rande einer Schuldenkrise standen, verbessern sich plötzlich die Rückzahlungsaussichten für private Anleger. Um so etwas zu verhindern, baut der Pariser Club ansonsten in alle seine Umschuldungsvereinbarungen routinemäßig Gleichbehandlungsklauseln ein, welche den Schuldnern verpflichten, von privaten Gläubigern mindestens die gleichen Zugeständnisse zu erwirken, die der Club gewährt hat.

Davon ist nun keine Rede mehr, und wenn es nicht so traurig wäre, könnte man dem IIF zu seiner genialen Propagandaleistung gratulieren. Denn logisch ist der behauptete Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung eines angebotenen Moratoriums und einer Verteuerung künftiger Kreditaufnahmen keineswegs: Wenn ceteris paribus existierende Gläubiger Erleichterungen gewähren, verschlechtern sich die Rückzahlungschancen künftiger Investoren selbstverständlich nicht. Im Gegenteil: Sie verbessern sich, wenn auch nur marginal.

Was wäre die Alternative?

Die G20 haben von Anfang an nur für die freiwillige Beteiligung der Privatgläubiger geworben. Dass man sie auch erzwingen könnte, ist nicht erwogen worden. Dabei gäbe es dafür eine Reihe von Möglichkeiten. Zwei wären besonders effizient:

  • In Großbritannien gibt es ein „Anti-Geier“-Gesetz welches verhindert, dass private Gläubiger vor britischen Gerichten ihre ursprünglichen Forderungen in voller Höhe durchsetzen, wenn ein beklagtes Land von der britischen Regierung Schuldenerleichterungen im Rahmen der HIPC-Initiative erhalten hat. Da mehr als die Hälfte aller internationalen Kreditverträge unter britischem Recht abgeschlossen werden, ist diese Bestimmung besonders wirksam. Die andere Hälfte ist ganz überwiegend unter New Yorker Recht abgeschlossen. Eine gesetzliche Bestimmung an diesen beiden Standorten, welche Klagen privater Gläubiger gegen Staaten im G20-Moratorium für dessen Dauer unmöglich machen würde, würde eine private Beteiligung elegant erzwingen.
  • Den gleichen Effekt könnte eine Resolution des Weltsicherheitsrats haben. Dieser hatte in der Resolution 1483 vom 22. Mai 2003 die Öleinnahmen des Irak nach dem Fall Saddam Husseins „immunisiert“. Das heißt, keiner der Gläubiger der damals über 130 Milliarden US-Dollar Auslandsschulden des Irak konnte diese Einnahmen in einem Mitgliedsland der UNO pfänden lassen. Damit war nicht nur die Grundlage für einen wirtschaftlichen Neuanfang des Landes nach Diktatur und Krieg gelegt. Auch die 2004 folgende, weit reichende Schuldenregelung wurde dadurch erst ermöglicht. Niemand konnte sich auf Kosten aller anderen Gläubiger schnell auszahlen lassen. Da, wie es der UN-Generalsekretär ausgedrückt hat, die Pandemie entweder weltweit oder gar nicht besiegt wird, gibt es ein übergeordnetes Interesse der Weltgemeinschaft daran, dass ärmere Staaten genau dafür auch ihre knappen Ressourcen einsetzen können. Zudem sind alle Vetomächte im Sicherheitsrat, die eine solche Resolution verhindern könnten, gleichzeitig auch Mitglied der G20, das heißt, sie selbst haben zulasten ihrer eigenen Steuerzahler*innen bereits einen Beitrag geleistet.

Deutschland ist zur Zeit übrigens nicht-ständiges Mitglied des Sicherheitsrates und könnte eine entsprechende Initiative leicht einbringen, wenn die Bundesregierung es denn ernst damit meinte, dass nicht die Steuerzahler*innen für die Profite der privaten Anleger zahlen sollen.

Wenn Gläubiger die Welt einteilen: Wie das G20-Moratorium ins Leere geht

Im April 2020 haben die G20 ein Schuldenmoratorium für bis zu 73 Länder beschlossen, um deren Bemühungen um Eindämmung von Covid-19 zu unterstützen. Das war zu der Zeit der richtige Schritt, denn in der unklaren und aufgeregten frühen Pandemie-Phase wäre für noch ambitioniertere Schuldenerleichterungen kaum ein G20-Konsens erreichbar gewesen.

Entscheidend ist indes, ob auch die nächsten Schritte gegangen werden: Umwandlung des vorläufigen Moratoriums in echten Schuldenerlass, Einbeziehung aller Gläubiger, einschließlich der Privaten und der Weltbank, und vor allem die Ausweitung der Länder, denen das Moratorium angeboten wird.

Der Preis für den bei G20 erzielten Konsens war, dass nur die ärmsten Länder (International Development Association (IDA)-qualifizierte und Least Developed Countries (LDC)) einbezogen wurden. Tendenziell waren das kleine und vergleichsweise „billig“ zu entschuldende Länder. Bezeichnenderweise haben bis Mitte Juni nach einer Übersicht der Weltbank von 73 potenziell zu begünstigenden Staaten nur 35 das Moratorium in Anspruch genommen. 

Die G20 gleichen somit dem sprichwörtlichen Besoffenen, der den nächtens verlorenen Hausschlüssel unter der Laterne sucht, weil es dort so schön hell ist, statt dort, wo er ihn verloren hat. Schuldenerlass ist kein Allheilmittel für Entwicklungsfinanzierungs-Probleme, aber er kann beträchtliche Wirkungen entfalten, wenn er dort angewandt wird, wo es auch tatsächlich ein Schuldenproblem gibt. Hätten die G20 statt eines niedrigen pro-Kopf Einkommens die Existenz eines Schuldenproblems zur Zugangsvoraussetzung gemacht, wäre rund die Hälfte der 73 ärmsten Länder gar nicht erst mit der individuell wenig sinnvollen Einladung zu einem Moratorium behelligt worden. Dafür hätten Nicht-IDA- und Nicht-LDC-Länder, denen tatsächlich die fiskalischen Spielräume für die Bekämpfung von Covid-19 fehlen, es in Anspruch nehmen können.

Basierend auf den Ende-2018-Daten, die erlassjahr.de im Schuldenreport 2020 verarbeiten konnte, haben wir 24 Länder außerhalb der begünstigten Gruppe identifiziert, deren Indikatoren nahelegen, dass sie ohne eine substanzielle Schuldenerleichterung nur die Wahl haben werden, Zahlungen in einer ungeordneten Weise einzustellen oder durch Neuverschuldung immer tiefer in die Überschuldung zu geraten. Eine ungeordnete Zahlungseinstellung ist in der Summe stets die teuerste Art, Schuldner-Gläubiger-Beziehungen zu unterbrechen. Zeit zu kaufen, indem ein bereits untragbarer Schuldenstand noch weiter aufgebläht wurde, war die Strategie der Gläubiger zwischen 1982 und 1996. Im Ergebnis bestand dann geschätzt die Hälfte der Streichungen unter der Initiative für hochverschuldete arme Länder (engl. Heavily Indebted Poor Countries Initiative, HIPC) ab 2000 aus „Phantomschulden“, die ohnehin niemals hätten zurückgezahlt werden können.

Fünf der 24 Länder waren beim Ausbruch der Pandemie bereits im Zahlungsausfall: Venezuela, Libanon, Argentinien, Barbados und Ecuador. Andere sind in auffälliger Weise von dem Verkauf weniger Rohstoffe oder von Hartwährungseinnahmen durch den Tourismus abhängig.

Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, ein umfassendes Moratoriumsangebot auszusprechen (etwa an alle Nicht-OECD-Länder). Die Erfahrung mit dem bereits angebotenen Moratorium zeigt ja gerade, dass Länder sehr wohl selbst entscheiden können, ob sie das Angebot für vorteilhaft halten oder nicht. Es ist vorstellbar, dass mit ähnlichen Gründen selbst einige aus dem Kreis der 24 es nicht in Anspruch nehmen würden (Vietnam, Uruguay, Albanien z.B.), während man gleichzeitig dort, wo andernfalls soziale und politische Katastrophen drohen würden, die notwendige Atempause für eine gründliche Neubewertung von Schuldentragfähigkeit geschaffen hätte.

Eine weitere (wenngleich weniger ambitionierte) Option könnte ein spezielles Moratoriums-/Umschuldungsangebot an Länder sein, welche zusätzlich zur Corona-bedingten Rezession Opfer von unverschuldeten externen Schocks wie Naturkatastrophen werden. Wir haben das im letzten Jahr für die Hurrikan-bedrohten Länder der Ostkaribik beispielhaft durchgespielt. 

Schuldenerlass zur Corona-Bekämpfung durch den IWF: Was steckt dahinter?

Der Internationale Währungsfonds IWF hat am Freitag Schuldenerlasse für ärmere Länder angekündigt. Das Instrument mit dem er dies tun will, ist der Treuhandfonds Catastrophe Containment and Relief Trust (CCRT). Dieser übernimmt gegebenenfalls anstelle der Schuldnerländer die fälligen Zahlungen an den IWF. erlassjahr.de begrüßt, dass dadurch weitere Mittel für die Bekämpfung der Corona-Pandemie in ärmeren Ländern bereitgestellt werden. Allerdings lohnt es sich an die auf den ersten Blick großzügige Geste drei Fragen zu stellen:

  1. Wer bezahlt den Schuldenerlass? Bereits am Mittwoch hatte die Direktorin des IWF Kristalina Georgieva zusammen mit David Malpass, dem Präsidenten der Weltbank, die Regierungen der reichen Länder aufgerufen, ärmeren Ländern ein Schuldenmoratorium zu gewähren. Nun scheinen die mächtigen Institutionen auch ins eigene Portemonnaie zu greifen. Nur: Es ist gar nicht ihr Portemonnaie. Die CCRT verfügt im Moment aus früheren Zusagen nur über bescheidene 200 Millionen US-Dollar. Großbritannien hat bereits weitere 183 Millionen US-Dollar bereitgestellt. Japan und China sollen ebenfalls Zusagen gemacht haben. Der IWF erwartet nun, dass andere Länder ebenfalls Beiträge leisten, bis die angepeilte Milliarde zusammengekommen ist. Beiträge für solche Sonderfonds des IWF für ärmere Länder kamen bisher stets aus den Entwicklungshilfehaushalten der reichen IWF-Mitglieder und sind mithin Mittel, die ansonsten in die Entwicklungszusammenarbeit fließen würden. So gesehen bezahlt der ärmere Teil der Welt seine Entschuldung selbst. Das bedeutet nicht, dass der Erlass von Schulden beim IWF nicht sinnvoll ist. Nur von Großzügigkeit sollte man an der Stelle nicht sprechen – jedenfalls nicht im IWF.
  2. Welche Länder können profitieren? Sehr präzise hat der IWF noch nicht erklärt, wer in den Genuss CCRT-finanzierter Schuldenerleichterungen kommen soll. Die Presseerklärung spricht von Ländern mit einem Pro-Kopf-Einkommen unter der Obergrenze für konzessionäre Finanzierungen. Damit kann die aktuelle Obergrenze für die Länder gemeint sein, die von der Weltbank ausschließlich zinsgünstige Kredite der International Development Association (IDA) bekommen. Diese liegt aktuell bei 1.145 US-Dollar. Damit würden nur relativ kleine Länder mit eher geringen Schulden Erleichterungen erhalten. Bezieht man hingegen auch Länder mit ein, die sowohl von der IDA als auch der eigentlichen Weltbank Kredite bekommen können, würde das 17 weitere Länder einschließen, darunter solche, die größere Beträge beim IWF ausstehen haben und für die regionale Pandemie-Bekämpfung eine große Bedeutung haben. Zu ihren gehören zum Beispiel Pakistan, Kamerun, Nigeria und Kenia.
  3. Wie „betroffen“ muss ein Land sein? Die CCRT entstand 2010 als Reaktion des IWF auf das Erdbeben in Haiti. 2015 wurde sie ausgeweitet, um Schuldenerlasse zugunsten der von Ebola betroffenen Länder in Westafrika zu ermöglichen. Um sich zu qualifizieren, musste ein Land damals 25 Prozent seiner produktiven Kapazitäten durch Ebola verloren oder Gesamtschäden in Höhe von 100 Prozent seiner jährlichen Wirtschaftsleistung erlitten haben. Wie auch immer der IWF die 25 Prozent berechnete: Guinea, Liberia und Sierra Leone konnten sich qualifizieren und unter anderem mit den so frei gewordenen Mitteln die Seuche erfolgreich eindämmen. Als allerdings im darauffolgenden Jahr Nepal Opfer eines schweren Erdbebens wurde, kam der IWF zu dem Ergebnis, dass die Schäden an den produktiven Kapazitäten des Landes gerade etwas weniger als 25 Prozent betrugen. Nepal musste weiter an den IWF zahlen. Die CCRT ihrerseits geriet in Vergessenheit bis jetzt erneut die Furcht aufkam, eine Pandemie könne sich in Afrika ungehindert verbreiten und dann womöglich ihren Weg (zurück) in die einflussreichen Mitgliedsländer des IWF finden. Sehr pragmatisch taucht die Bedingung eines erlittenen Mindestschadens im Zusammenhang mit der für Corona ausgeweiteten CCRT nun gar nicht mehr auf. Wenn man Seuchenprävention finanzieren will, würde die ohnehin keinen Sinn ergeben.

Es ist natürlich zu begrüßen, dass der IWF im Interesse der Bekämpfung von Corona auf eigene Forderungen verzichten will. Für ihn selbst ist diese Maßnahme allerdings komplett kostenlos. Das war anders, als er das letzte Mal im Rahmen einer großen Schuldenerlassinitiative auf eigene Forderungen verzichtet hat. Damals trug er unter anderem über Goldverkäufe zumindest einen Teil der Kosten selbst. Auch so kann es gehen.

Verschuldungskrise und Corona-Krise: die sehr reale Gefahr der gegenseitigen Verstärkung

Die Coronakrise wird hierzulande vor allem als ein Phänomen wahrgenommen, das zwar von China ausgegangen ist, nun aber vor allem uns, das heißt Deutschland, die EU, die USA und weitere Industrieländer betrifft. Das ist nicht falsch, aber es verdeckt, dass die einmal ausgebrochene Pandemie in ärmeren Ländern weitaus dramatischere Folgen für Leib und Leben der Betroffenen wie auch für die wirtschaftliche Zukunft der Länder haben kann.

Insbesondere besteht die Gefahr, dass es zu Rückkoppelungseffekten kommt, also eine einmal ausberochene Corona-Epidemie umso dramatischere Folgen für das Leben der Menschen und die Wirtschaftsleistung der ganzen Gesellschaft hat, je ärmer das Land zuvor schon ist. Und umgekehrt eine geschwächte Volkswirtschaft auch weiter an Möglichkeiten verliert, sich der Epidemie mit effektiven gesundheitspolitischen Maßnahmen entgegenzustellen.

EURODAD hat diese Zusammenhänge in mehreren Blog-Beiträgen aufgezeigt. Die wichtigsten Ergebnisse:

Der Schuldendienst ärmerer Länder verschlingt im Durchschnitt mehr Mittel als die Aufwendungen für öffentliche Gesundheit.

Von 76 vom Internationalen Wärungsfonds (IWF) als „Volkswirtschaften mit niedrigem Einkommen“ (Low Income Economies, LIEs) klassifizierten Ländern wenden 46 mehr Mittel für die Bedienung öffentlicher Schulden als für die öffentliche Gesundheitsvorsorge auf. Dabei geht es um Länder, in denen sich – anders als bei uns – allenfalls eine hauchdünne Minderheit auf eine rein private Gesundheitsvorsorge verlassen kann und die Mehrheit auf öffentlich finanzierte Dienstleistungen angewiesen ist. Im Schnitt dieser 46 Länder werden 7,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die Tilgung und Verzinsung öffentlicher Schulden und nur 1,8 Prozent des BIP für die öffentliche Gesundheitsvorsorge aufgewendet. Die WHO schätzt, dass zur Erreichung des auf Gesundheit bezogenen SDG 3 bis 2030 mindestens 8,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts notwendig sind. Die untenstehende Graphik zeigt, dass die große Mehrheit dieser Länder weit dahinter zurück bleibt: 59 Länder investieren nicht einmal die Hälfte dessen, was in 2030 nötig wäre. Sie zeigt auch, welches Potenzial eine Umschichtung von dem Segment links oben in der Graphik nach rechts unten – also vom Schuldendienstzahlung zu Investitionen in die Gesundheitsvorsorge haben könnte, um das von allen Staaten beschlossene SDG 3 zu erreichen.

Graphik 1: Zinsen und Tilgungen auf die öffentlichen Schulden und Aufwendungen für das öffentliche Gesundheitssystem als Anteil am BIP

Quelle: Eurodad, based on IMF country DSA, World Bank WDI

Die Rezession in China kann ärmere Länder in den Bankrott treiben.

Berechnungen der UNCTAD zur Abhängigkeit von Ländern vom Rohstoffexport unterstreichen die Gefahr, dass der wirtschaftliche Einbruch in China sich auch in eine Insolvenz derjenigen Länder übersetzen wird, die bislang den Rohstoffhunger der „Werkbank der Welt“ gestillt haben. Noch sehr vorläufige Schätzungen gehen davon aus, dass chinesische Importe seit Jahresbeginn um 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen sind. Das klingt noch nicht sehr viel, hat aber wegen der riesigen Nachfrage Chinas schon zu einem durchschnittlichen Preisrückgang für die von China importierten Rohstoffe um rund 30 Prozent geführt. Zusammen kann das Länder, die ohnehin am Rande der Zahlungsfähigkeit stehen, tatsächlich in den Staatsbankrott treiben. Von den 76 LIEs sind mehr als die Hälfte bereits im Zahlungsausfall oder haben ein hohes Risiko es in nächster Zeit zu werden.

Einige Länder sind besonders betroffen.

In den folgenden Ländern besteht ein besonders hohes Risiko, dass Ressourcenabflüsse für den Schuldendienst das Gesundheitssystem der Fähigkeit zu einer angemessenen Antwort auf die Coronakrise berauben (Länder mit bereits registrierten Corona-Fällen kursiv, Stand 18.03.2020):

bereits im Zahlungsausfall: Gambia, Rep. Kongo, Mosambik, São Tomé und Príncipe, Simbabwe, Somalia, Sudan

hohes Überschuldungsrisiko: Afghanistan, Dschibuti, Ghana, KapVerde, Mauretanien, Sambia, Tadschikistan

mittleres Überschuldungsrisiko: Jemen, Kenia, Togo

niedriges Überschuldungsrisiko: Senegal, Tansania.

Afrika könnte sich selbst helfen – mit den nötigen Mitteln.

Anders als die oft hilflosen und zu spät agierenden europäischen Regierungen, haben die Verantwortlichen in zahlreichen afrikanischen Ländern aus den zahlreichen Pandemien des Kontinents gelernt und mit zeitigen und entschlossenen Maßnahmen ihre Länder selbst Corona-frei halten können. Eng werden kann es allerdings, wenn (siehe oben) die finanziellen Mitteln dafür nicht mehr ausreichen. Pakistans Premierminister Imran Khan hat heute als erster Staatschef eines ärmeren Landes über die Medien Schuldenerleichterungen für sein Land, aber auch den Erzrivalen Indien und weitere, unter anderem afrikanische Länder gefordert.

IWF und Weltbank: Entschuldungsverfahren sind unzulänglich und reformbedürftig

Auf dieses Papier haben wir lange gewartet. 

Am 10. Februar veröffentlichte der IWF eine gemeinsam mit der Weltbank erstellte Analyse zu neuen Überschuldungsrisiken („Debt Vulnerabilities“) in Niedrigeinkommensländern. Die Analyse schließt an das kürzlich veröffentlichte Dokument der Weltbank „NewWaves of Debt Crises“ an, in dem es den Umfang, die Geschwindigkeit und zahlreiche einzelne Merkmale des erneuten Schuldenaufbaus realistisch beschreibt. Es geht aber an einer entscheidenden Stelle über die „New Waves“ hinaus, indem es konstatiert, dass aktuelle Umschuldungsverfahren keine angemessene Antwort auf die sich aufbauenden Krisen mehr darstellen. 

Diese Erkenntnis hat in keinem gemeinsamen Papier mehr gestanden, seit Fonds und Bank 1996 einräumen mussten, dass mit ein paar Laufzeitverlängerungen und Teilerlassen im Pariser Club die „Schuldenkrise der Dritten Welt“ nicht in den Griff zu bekommen war und damit die Grundlage für die spätere HIPC-Initiative schufen. Seither bestimmten drei Theoreme den Diskurs der beiden Institutionen:

  • Staatsschuldenkrisen sind – auch, wenn hier und da mal steigende Indikatoren zu beobachten sind – ein Ding der Vergangenheit.
  • Sollten sie doch mal auftreten, sind sie mit den neu geschaffenen Collective Action Clauses (CACs) in den Griff zu bekommen.
  • Sollten sie doch nicht in den Griff zu bekommen sein, dann liegt die Schuld dafür in dem unzulänglichen Schuldenmanagement der kreditnehmenden Länder.

Die ersten beiden Lebenslügen tauchen in dem gemeinsamen Papier überhaupt nicht mehr auf. Die dritte eher ins Positive gewandelt, indem die Fortschritte vieler Länder in der Organisation ihrer Debt Management Offices gewürdigt werden (Pts. 25ff).

Anders als früher stehlen die Autor*innen sich aber nicht mehr aus der Erkenntnis, dass es aktuell keine funktionierenden Verfahren zum Umgang mit der nächsten Krise gibt. Im Gegenteil: Pt. 33 bilanziert die Defizite, denen sich jede neue Umschuldung gegenüber sehen wird: 

  • Der Pariser Club hat seit 2015 keine Rolle bei irgendwelchen Umschuldungen mehr gespielt und hält auch nur noch einen kleinen Teil der relevanten Forderungen. Als Akteur ist er nahezu irrelevant.
  • Zwar enthalten 87 Prozent aller von Niedrigeinkommensländern ausgegeben Staatsanleihen inzwischen CACs, aber Anleihen insgesamt speilen als Forderungskategorie nur eine untergeordnete Rolle.
  • Da, wo über mehrere Anlageklassen hinweg zuletzt Umschuldungen stattfanden, waren diese langwierig, unvollständig und intransparent.

Konsequenterweise bilanziert das Papier (Pt. 40): „Die existierenden Entschuldungsverfahren erscheinen als beängstigend unzulänglich. (…) Es braucht eine Überarbeitung der gesamten Architektur von Staatsschuldenrestrukturierungen.“ (Übersetzung JK) 

Wenn dieser Reformimpuls innerhalb des IWF nicht wieder eingefangen wird, wie der Vorschlag eines Sovereign Debt Workout Mechanimsm von 2001 oder der kurzlebige „Washingtoner Frühling“ von 2013, der den Abwehr-Impulsen der Europäer in der Griechenlandkrise zum Opfer fiel, kann dieses Papier der entscheidende Anstoß für die von erlassjahr.de und vielen Bewegungen rund um den Globus geforderte Schaffung rechtsstaatlicher und effizienter Entschuldungsverfahren werden. Wenn …

Neben seiner Kernaussage enthält das Papier überdies eine ganze Reihe interessanter Details zum Aufbau der nächsten Schuldenkrise, die eine Lektüre lohnen, darunter:

  • Die bedenklichen Auswirkungen der für Niedrigeinkommensländer anhaltend hohen und jetzt wieder steigenden Zinsen, die für die Untergruppe der Frontier Economies jetzt schon höher sind als vor der HIPC-Entschuldung (Box 1).
  • Die Gefahr durch Öffentlich-private Partnerschaften (ÖPPs), die zusammen mit anderen „impliziten Zahlungsverpflichtungen“ zu den Haupttriebkräften des erneuten Schuldenaufbaus gehören (Pt.10).
  • Die Laufzeiten der Kreditaufnahmen und Anleiheverkäufe von Niedrigeinkommensländern werden tendenziell immer kürzer, so dass das Risiko von Staatspleiten steigt, wenn Länder existierende Tilgungen nicht mehr am Kapitalmarkt refinanzieren können („Roll-over Risk“) (Pt. 15).

Die Weltbank warnt vor der nächsten Schuldenkrise

In den Chor derjenigen, die wie erlassjahr.de vor einer dramatischen nächsten Schuldenkrise warnen, hat sich nach dem IWF nun auch die Weltbank eingereiht. Sie analysiert den rasanten Aufbau von öffentlichen und Auslandsschulden in Entwicklungs- und Schwellenländern in einer voluminösen und teilweise recht langatmigen Studie unter dem Titel „Global Waves of Debt“. Das Papier hat in den Medien beträchtliches Echo gefunden, im deutschsprachigen Raum unter anderem mit einer ausführlichen Besprechung in der NZZ.

Nützlich an der Studie und über die Arbeiten beim IWF oder von erlassjahr.de hinausgehend ist die Interpretation des aktuellen Aufbaus von Überschuldung als „Welle“, genauer gesagt als bereits vierte derartige Welle seit der „Schuldenkrise der Dritten Welt“ in den siebziger und achtziger Jahre, der Ostasienkrise Ende der neunziger und den Schwellenländerkrisen rund um die globale Finanzkrise 2008. Das Besondere und besonders Besorgniserregende an der aktuellen Krise ist nicht nur, dass der Schuldenaufbau schneller erfolgt und größere Ausmaße annimmt als je zuvor. Die Weltbank-Autor/innen stellen auch drei qualitative Unterschiede zu den drei vorangegangenen Wellen fest, die wir selbst und andere so bislang noch nicht herausgearbeitet hatten:

  • Während die vorherigen drei Wellen einen regionalen Fokus hatten, ist die aktuelle Welle global; sie trifft Staaten auf allen Erdteilen.
  • Der Schuldenaufbau erfolgt  – wiederum anderes als die drei Male vorher – sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor. Sowohl öffentliche Haushalte als auch private Banken und Unternehmen werden von Insolvenz bedroht.
  • Der Anteil konzessionärer Kreditvergaben geht auf breiter Front zurück; selbst Länder mit niedrigem Einkommen sind in wachsendem Umfang zu Marktkonditionen, d.h. hohen Zinssätzen und kurzen Laufzeiten verschuldet.

So gesehen ist die Studie ein (weiterer) willkommener Weckruf an die politisch Verantwortlichen nicht einfach in die nächste Schuldenkrise zu schlafwandeln.

Was sie nicht enthält, ist irgendein innovativer Gedanke, wie mit der nächsten Krise denn besser umgegangen werden könnte als beim letzten Mal. Zwar wird das unzureichende Tempo der seinerzeitigen HIPC-Entschuldung für die ärmsten Länder vereinzelt kritisiert, und im Zusammenhang mit der Krise in Argentinien, der Türkei und Russland taucht auch mal der Begriff „Innovation“ im Zusammenhang mit der Krisenbewältigung auf. Was damit gemeint sein könnte, erfährt der Leser allerdings nicht.

Stattdessen wird implizit und explizit der Mythos gepflegt, die gerade in ihrer Dramatik treffend beschriebene Krise lasse sich durch etwas mehr Transparenz, verantwortungsvollere Kreditvergabe hier oder dort und ein besseres Schuldenmanagement in den Finanzministerien doch noch verhindern. Das hat teilweise schon realsatirischen Charakter, wenn seitenlang erklärt wird, dass es besser ist, wenn aufgenommene Kredite nicht vergeudet, sondern produktiv investiert werden.

Erfreulicherweise ist der IWF an diesem Punkt deutlich weiter: Auf der anderen Seite der 19. Straße in Washington wird an einem Papier zu Innovationen bei der Krisenbewältigung gearbeitet, welches rund um die gemeinsame Frühjahrstagung im April im IWF-Vorstand diskutiert werden soll. Anders als im Weltbank-Papier lassen erste Eindrücke von den Überlegungen des Fonds-Stabs erwarten, dass man sich dort dem in den letzten Jahren gepflegten Dogma, nur über Prävention nie aber über bessere Umschuldungsverfahren zu reden, nicht länger verpflichtet fühlt.

Sie haben es wieder getan: EU blockiert ambitionierte Schuldenresolution in der UNO

Am 10. Oktober wurde im „Zweiten Komitee“ der UN-Vollversammlung über die alljährliche Resolution der Weltgemeinschaft zu globalen Schuldenproblemen diskutiert. Zwei Statements stachen aus der ansonsten eher routiniert ablaufenden sich, alljährlich wiederholenden Beratung hervor: 

Der Delegierte Malawis, Dr. Perks Clemency Ligoya, erinnerte im Namen der G77, also aller Entwicklungs- und Schwellenländer, angesichts der global steigenden Schuldenindikatoren daran, dass es im globalen Schuldenmanagement nach wie vor eine entscheidende Leerstelle gibt:

„Es ist besorgniserregend, dass es immer noch kein internationales Insolvenzverfahren für Staaten gibt. Die UN-Vollversammlung sollte das Thema dringend auf die Agenda nehmen.“

Noch deutlicher wurde sein Kollege Courtenay Rattray, der als Delegierter Jamaikas für die karibische Staatengemeinschaft CARICOM sprach:

„Ich war 2015 dabei, als wir versucht haben, ein Insolvenzverfahren für Staaten zu schaffen. Damals hat es nicht geklappt, aber vielleicht ist es jetzt an der Zeit das Thema wieder aufzunehmen. Damals haben wir stattdessen 9 Prinzipien für den Umgang mit überschuldeten Staaten verabschiedet und auch die UNCTAD hat eigene Prinzipien für verantwortliche Kreditvergabe und -aufnahme. Ich glaube allerdings, dass die drohende Krise eines strukturierteren Lösungsansatzes bedarf.“

Konsequenterweise schlugen die G77 daraufhin die Arbeit an einem solchen Staatsninsolvenzverfahren im Rahmen der Weltorganisation als Bestandteil der diesjährigen Resolution vor. erlassjahr.de und viele andere NROs und Netzwerke weltweit haben diesen Resolutionsentwurf unterstützt und das ihren jeweils eigenen Delegationen in New York auch mitgeteilt. Eine Antwort haben wir nicht bekommen. Schlimmer aber: Die EU und der andere große Block der Industrieländer JUSCANNZ (Japan, USA, Kanada, Australien, Norwegen, Neuseeland) haben den Vorstoss der G77 blockiert und letztlich verhindert. Da solche Resolutionen nach dem informellen Procedere der UNO nicht mit Mehrheiten, sondern stets im Konsens verabschiedet werden, stellen sie immer nur einen kleinsten gemeinsamen Nenner dar und sind entsprechend langweilig.

Dass die EU dabei nicht Kompromisse gesucht und Wege für Innovation offen gehalten hat, macht die freundlichen Worte in Richtung auf globale Reformen, die wir traditionell aus dem BMZ und zuletzt auch beim China/Asien-Seminar in Berlin von der Leitung des BMF gehört haben, besonders unglaubwürdig. 

Griechenland am 7. Juli 2019: Lehren aus einer niemals überwundenen Krise

Am kommenden Sontag, dem 7. Juli wählen die Griech/innen ein neues Parlament. Alles deutet darauf hin, dass das Linksbündnis Syriza die Mehrheit an die konservative Nea Demokratia verlieren wird. Die vier Jahre seit Syrizas triumphalem Wahlsieg gehören sicher zu den bewegtesten in der neueren griechischen Geschichte. Auch aus der Sicht der weltweiten Entschuldungsbewegung hat mit Recht kaum ein Land so viel Aufmerksamkeit gefunden, wie das EU-Mitglied seit seiner faktischen Staateninsolvenz im Jahr 2010.

Im März dieses Jahres hat Griechenland formell das mit der Troika aus Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank und Europäischer Kommission vereinbarte Programm verlassen und sich erstmals wieder am Kapitalmarkt das Geld borgen können, das es zur Erfüllung seiner staatlichen Aufgaben und zur Bedienung seiner inländischen und ausländischen Schulden benötigt. Mit 3,9 Prozent musste es zunächst einen für europäische Verhältnisse hohen Zinssatz bezahlen. Dieser ist seither aber deutlich gefallen, so dass Griechenland inzwischen fast wieder wie ein normaler Kreditnehmer agieren kann.

Hat sich somit die Aussage der Troika bewahrheitet, dass Griechenland die (selbstverschuldete) Katastrophe halt durchstehen müsse, um dann am Ende (also jetzt) wie Phönix aus der Asche zu steigen? Mit der von Schäuble, Draghi und Co nach dem Wahlsieg der Syriza ausgesprochenen Drohung, die griechische Wirtschaft lieber zu ruinieren, als einen selbstbestimmten Ausweg aus der Überschuldung zuzulassen, war es schon im Laufe des Jahres 2015 gelungen, die gerade erst durch ein Referendum gestärkte Linksregierung zur Kapitulation zu zwingen. Seitdem setzte die Regierung des Ministerpräsidenten Tsipras folgsam um, was Brüssel, Frankfurt und Washington forderten.

Die wiedergewonnene Kapitalmarktfähigkeit Griechenlands ist sicherlich ein Erfolg der von außen diktierten Politik des Landes. Allerdings ist die Behauptung, die durchlittene Austerität, die zum Beispiel die Jugendarbeitslosigkeit immer noch auf Rekordniveau hält, sei für diesen Erfolg verantwortlich, nur zum Teil richtig. Mindestens so wichtig ist, dass die Zinsen in Europa weiterhin extrem niedrig sind und die Anleger sich deshalb auf alles stürzen, was Renditen jenseits der Inflationsrate verspricht. Dass Griechenland trotz der teuer bezahlten Haushaltskonsolidierung in neue Schwierigkeiten geraten wird, wenn diese günstigen Umstände nicht mehr da sind, hat auch der IWF in seiner Risikoanalyse des Landes betont.

Schließlich sind die Schulden des Landes keineswegs zurückgegangen. Die Schuldenerleichterungen von 2012 und in kleinerem Umfang danach haben die Schulden im Verhältnis zur Wirtschaftsleitung nicht einmal stabilisiert. Lagen sie zwischen 2008 und 2016 im Durchschnitt bei 160 Prozent, sind sie bis Ende 2018 nochmals auf 183,3 Prozent angestiegen. Erst danach sollen sie dank der anhaltenden Austerität kontinuierlich fallen. Da sieht die IWF-Projektion für Griechenland nicht anderes aus als die Klassiker unter den Vorhersagen des Fonds für arme afrikanische Länder: Anhaltender Anstieg der Schuldenindikatoren bis genau zu dem Moment, in dem die harten Fakten in die Vorhersagen übergehen. Danach wird dank der minutiösen Befolgung der IWF-Vorgaben alles gut. In der langen schmerzhaften Geschichte der so genannten „Schuldenkrise der Dritten Welt“ ist das praktisch nirgendwo jemals so eingetreten.

Die zu Beginn dieses Jahres von der Syriza hektisch ergriffenen Maßnahmen zur Stärkung der Binnennachfrage und zur Besserstellung der armen Griech/innen (Rentenerhöhung, vergünstigte Schuldentilgung) reichen nicht aus, um das zu schaffen, was unter weniger widrigen Umständen die Linksregierung in Portugal geschafft hat: durch eine gezielte Stärkung der Binnenökonomie das relative Gewicht der Schulden bei gleichbleibender absoluter Höhe langsam in ungefährlichere Gefilde abzusenken. Viel spricht dafür, dass eine solche “antizyklische” Entwicklung zu verhindern auch Teil der Vergeltungsstrategie der europäischen Institutionen für die Unbotmäßigkeit der frühen Syriza-Phase gewesen ist. Mit einer nach dem nächsten Sonntag amtierenden ND-Regierung wird es die grundsätzlichen Infragestellungen der liberalen Glaubenssätze, mit denen Varoufakis & Co die internationalen Institutionen 2015 gepiesackt haben, sicher nicht mehr geben.

Wer mit dieser Perspektive jetzt auf Griechenland schaut, der sollte zwei Entwicklungen nicht aus dem Blick verlieren, die weit über den unmittelbaren griechischen Fall hinaus von Bedeutung sind:

Die Europäer haben mit ihrer Weigerung, die europäischen Privatbanken die Folgen ihrer leichtsinnigen Kreditvergabe an Griechenland tragen zu lassen, die Tür zur europäischen Staatenfinanzierung für Investoren aus anderen Teilen der Welt geöffnet. Dass eine chinesische Firma inzwischen den Hafen von Piräus betreibt und Griechenland auch formell zum Mitglied der „Neuen Seidenstraße“ geworden ist, ist nur der sichtbarste Ausdruck davon. Das europäische Lamento darüber, dass jemand von außen nun womöglich in einem europäischen Land strategische Interessen verfolgt, dem man vorher selbst die Atemluft abgedreht hat, um die Profite der eigenen Banken zu retten, ist an Dummheit kaum zu übertreffen.

Auch der IWF ist nicht ohne Kratzer und Schrammen aus der Griechenland-Krise hervor gegangen. Auf ihrem Höhepunkt weigerte er sich kurzzeitig, sich an der Griechenland Rettung zu beteiligen, weil seine Analysen keineswegs erkennen ließen, dass Griechenland mit dem frischen Geld aus Washington mittelfristig wieder ein tragfähiges Verschuldungsniveau erreichen würde. Genau das aber forderten die Regularien des Fonds. Auf Druck von Kanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble musste der IWF darauf hin sein Grundgesetz, die Articles of Agreement, so ergänzen, dass eine IWF-Finanzierung dann trotzdem möglich sei, wenn ohne diese der Weltwirtschaft eine „systemische Ansteckung“ drohe. Lateinamerikanische, afrikanische und asiatische IWF-Mitglieder, die stets die volle Härte der jeweiligen IWF-Konditionalitäten getroffen hatte, protestierten heftig, und schon gut ein Jahr später – als die Griechenland-Finanzierung längst über die Bühne gegangen war, wurde die Systemic Exemption stillschweigend wieder abgeschafft. Seither bemüht sich der IWF, sich mit der Forderung nach weiteren Schuldenerleichterungen für Griechenland ausdrücklich gegen die europäischen Interessen zu positionieren. Durchgekommen ist er damit indes nicht, wie schon die Weigerung der Europäer, die zugesagte Rückzahlung der EZB-Gewinne aus dem Kauf griechischer Anleihen nach Athen wie versprochen umzusetzen, zeigt. Und die starke Botschaft, dass, wenn es hart auf hart kommt, einige IWF-Mitglieder etwas gleicher sind als alle anderen, lässt sich ohnehin nicht wieder einfangen.

Zwanzig Jahre nach der „Kölner Kette“

Eigentlich begann die Heavily Indebted Poor Countries (HIPC)-Initiative natürlich nicht am 19. Juni 1999, sondern drei Jahre zuvor. Trotzdem ist der Tag der Menschenkette der damaligen weltweiten Erlaßjahr2000-Kampagne um den G8-Gipfel in der Kölner Innenstadt ein Meilenstein in der Entschuldungsgeschichte der ärmsten Länder. Mit der dort erweiterten Initiative wurde der Prozess der Streichung der Schulden bei allen ihren Gläubigern, einschließlich der multilateralen Finanzinstitutionen (IWF, Weltbank, Afrikanische Entwicklungsbank) organisiert. Die teilweise absurden Schuldenhöhen einiger der begünstigten Länder wurden auf tragfähige Größenordnungen reduziert, indem die Schulden schlicht erlassen wurden. 

Heute bewegen sich einige der damals begünstigten Länder langsam, aber stetig wieder auf die damaligen Schuldenhöhen zu und unter vielen Beteiligten wächst die Angst, die „schmerzhafte HIPC-Geschichte“ könne sich wiederholen. Sofern diese Sorge von Gläubigerseite – vor allem den westlichen Regierungen – geäußert wird, ist mit dem Schmerz vor allem (oder ausschließlich) der eigene gemeint. Dass man nämlich zuvor jahrzehntelang blauäugig in den Büchern fortgeschriebene Forderungen an die ärmsten Länder abschreiben musste, statt weiter darauf zu hoffen, dass die längst bankrotten Schuldnerstaaten wunderbarerweise nächstes Jahr zu Geld kommen und einen damit ausbezahlen würden. Nicht gemeint sind dagegen die realen Schmerzen der Menschen in den betroffenen Ländern, die 1999 schon eineinhalb Jahrzehnte vollkommen sinnloser Austerität hinter sich hatten, mit der die Regierungen ihren Völkern auf Druck von IWF und Weltbank den Schuldendienst an die reichen Kreditgeber vom Munde absparten.

Am erschreckendsten ist indes, dass die im IWF, unter Wissenschaftler/innen und natürlich bei Nichtregierungsorganisationen wie erlassjahr.de aufkommende Forderung, dem nächsten Schuldenerlass nicht erst wieder Jahre wirtschaftlicher, sozialer und politischer Verheerung vorausgehen zu lassen, auf einige der gleichen Abwiegel-Argumente trifft wie damals: Staaten könnten gar nicht pleitegehen; wer einen Schuldenerlass in Anspruch nehme, bekomme danach nie wieder einen Kredit und natürlich das unvermeidliche „Multilaterale Schulden sind sakrosankt; werden die gestrichen, bricht zum Schaden der ärmsten Länder umgehend die globale Finanzarchitektur zusammen“. All diesen Mumpitz hat die real existierende HIPC-Initiative  – wenn auch viel langsamer als nötig – überzeugender entlarvt als noch so kluge Argumentationen unserer wissenschaftlichen Unterstützer/innen das je konnten. Seht her: Es ging doch, und nicht wenige der entlasteten Länder haben die Chance auf einen wirtschaftliche Neuanfang überzeugend und zum Nutzen ihrer zuvor verelendeten Bevölkerung auch genutzt.

Was vor und nach dem Juni 1999 genau passiert ist und was daraus für die Diskussionen von heute folgt, haben wir in einer kurzen Studie “20 Jahre nach der Schuldenerlass-Initiative des Kölner-G8-Gipfels – Was wurde aus den HIPC-Ländern” für die Friedrich-Ebert-Stiftung zusammengestellt.

Schuldenreport 2019 goes United Nations

Zwei Wochen nach der Präsentation des Schuldenreports 2019 hat unsere Weltkarte den Weg in die Vereinten Nationen gefunden – sogar auf Deutsch, obwohl das keine offizielle UN-Sprache ist.

Beim Financing for Development-Forum des Wortschafts- und Sozialrats der UNO (ECOSOC) haben wir zusammen mit Kolleg/innen von Jubilee Caribbean, Jubilee USA, EURODAD und der norwegischen Regierung das Panorama der heraufziehenden nächsten Schuldenkrise ausgebreitet. 

Die englische Version des Schuldenreports liegt für die Delegationen der Regierungen aus der ganzen Welt aus und wird fleißig mitgenommen. Und hoffentlich auch gelesen.

Heute am 18. April geht das Forum zu Ende. Die bereits zuvor erstellte Abschlusserklärung enthält ein paar Stichworte in Richtung auf fairere Lösungen für globale Schuldenkrisen, aber auch in diesem Jahr ist die UNO nicht der Ort, an dem Durchbrüche in dieser Frage erzielt werden. Vielmehr ist sie ein Ort, um gezielte Koalitionen zu bilden und im Blick auf die von Jubilee Caribbean angestrebte regionale Entschuldungsinitiative den Kontakt mit der sehr aktiven UNO-Botschaft von Antigua und Barbuda wieder aufzubauen – und mit Kolleg/innen aus der ganzen Welt nächste Schritte zu planen. Auch wieder bei der UNO natürlich.