Den Dialog über Schuldenkrisen mit dem IWF nicht nur geführt, sondern organisiert

Nein es sind nicht die Protagonist/innen der heutigen Debatte „Tackling the Next Sovereign Debt Crisis“ auf dem Bild, sondern nur das NRO-Team, das auf Bitte des IWF die Veranstaltung mit dem Fonds zusammen organisiert und vorbereitet hatte.

IWF-Vize David Lipton für den Fonds diskutierte mit unserem AFRODAD-Kollegen Fanwell Bokosi, dem Finanzminister von Benin, Romuald Wadagni, dem Rechtsanwalt Lee Buchheit und der Cornell-Rechtsprofessorin Odette Lienau über die Gefahr der nächsten Schuldenkrise. Ein mit rund 150 Zuhörer/innen überfülltes IWF-Auditorium zeigte, dass die hier zur Frühjahrstagung versammelten Banker und Regierungen das Thema durchaus ernst nehmen.

Inhaltlich war die Diskussion eher konventionell. Während Fanwell Bokosi alle Register der Reformdebatte zog, war der IWF defensiv wie immer: Sicher sehe man die Krise kommen. Sicher stehe man bereit, Staaten in Schwierigkeiten zu helfen. Aber darüber die Aussagen von Fanwell Bokosi, Odette Lienau und Lee Buchheit, dass mit den Mitteln von gestern die nächste Krise kaum zu bewältigen sei, schwieg sich der IWF vorsichtshalber aus. 

Der Forderung nach einem großen Wurf, einem unabhängigen und unparteiischen Entschuldungsverfahren mit dem Potenzial, die Koordinationsprobleme zwischen Pariser Club, China, weiteren nicht-traditionellen Gläubigern, privaten Banken und einer Vielzahl von Anleihezeichnern zu lösen, traf auf eine Formulierung, die nun wirklich kein Mensch mehr hören kann: Dafür gäbe es „no Appetite“ in der Politik. Abgesehen davon, dass auch auf die HIPC-Entschuldung bis zum letzten Tag vor ihrer Umsetzung seinerzeit niemand wirklich Hunger hatte, zeigt die Formulierung, dass der IWF ganz offenbar mit einigen seiner Mitglieder etwas mehr redet als mit anderen: Es ist noch keine fünf Jahre her, dass die große Mehrheit der Mitglieder des IWF beschlossen hatte, in der UN-Vollversammlung ein Staateninsolvenzverfahren zu schaffen. Appetitlos (besser gesagt: im Hungerstreik) waren nur die gleichen reichen Europäer und Amerikaner, die der IWF auch heute offenbar mit der Weltgemeinschaft als Ganzer verwechselt. 

Wird die nächste Schuldenkrise des Globalen Südens eine chinesische Krise?

Gerade geht in Peking der diesjährige China-Afrika-Gipfel zu Ende. Das Treffen zwischen der chinesischen Staatsführung und zahlreichen afrikanischen Regierungschefs stand im Zeichen großzügiger Kreditzusagen der chinesischen Seite an ihre afrikanischen Partner. Ein großer Teil davon wurde im Rahmen der chinesischen Initiative „Neue Seidenstraße“ zur Finanzierung von Infrastrukturprojekten zugesagt. Die spektakuläre Zahl von 60 Milliarden US-Dollar wurde berichtet. Davon sollen 15 Milliarden US-Dollar als zinsgünstige Kredite und Zuschüsse bereitgestellt werden und neben verschiedenen Sonderfonds noch 20 Milliarden als nicht-konzessionäre Kredite und 5 Milliarden als Exportkredite für den Kauf chinesischer Waren.

Insbesondere die letztgenannten Positionen beunruhigen westliche Kreditgeber in einer Mischung aus Angst um den traditionellen Hinterhof, in dem britische, französische und oft auch deutsche Geld- und politische Ratgeber seit der Kolonialzeit mehr oder weniger exklusiv das wirtschaftliche Sagen hatten, einerseits und einer (berechtigten) Angst, dass das beträchtliche chinesische Engagement Länder in eine neue Schuldenkrise treibt, bei der am Ende alle Gläubiger um ihre Rückzahlungen und Zinsen fürchten müssen andererseits. Das zeigt sich in der FAZ mit der reißerischen Überschrift „China drängt Seidenstraßen-Länder in die Schuldenfalle“ oder durch die 16 überwiegend republikanische Senatoren, die den US-Präsidenten auffordern, den IWF unter Druck zu setzen, damit dieser nicht eines Tages US-Steuergeld dazu verwendet, unverantwortliche chinesische Kreditgeber zu retten. Schließlich verfolgten die Chinesen mit ihren Krediten vor allem geopolitische Ziele. Aus der amerikanischen Hauptstadt, wo man es gewohnt ist, im Interesse der eigenen geopolitischen Interessen dem IWF bei einem nachmittäglichen Spaziergang mal eben die Direktiven des wichtigsten Anteilseigners mitzuteilen, ist das ein Statement mit erheblichem Satire-Potenzial.

Sowohl in dem FAZ-Artikel wie auch von den amerikanischen Senatoren wird Bezug genommen auf eine sehr informative Studie des Center for Global Development (CGD) in Washington. Sie konstatiert für einige der Seidenstraßen-Länder tatsächlich eine gefährliche Zunahme der Verschuldung – aber fast ausschließlich für asiatische Kreditnehmer. In Afrika sieht sie einzig das kleine Dschibuti in der Gefahr, durch die Kreditaufnahme bei China in eine nicht mehr tragfähige Verschuldung zu geraten.

erlassjahr.de war bei seiner letzten Jahrestagung im November 2017 vom IWF gewarnt worden, dass die chinesische Kreditvergabe nach Afrika inzwischen das sechsfache der Neukredite aller traditionellen Industrieländer ausmache. Auf der Grundlage der CGD-Studie haben wir die Forderungsbestände Chinas mit denen des gesamten Pariser Clubs – also den traditionellen Industrieländern – in den möglicherweise überschuldungsgefährdeten Ländern der Neuen Seidenstraße verglichen: Nur in zwei Fällen (neben dem Sonderfall Dschibuti auch in Äthiopien) wird die Größenordnung von 6:1 tatsächlich übertroffen, während zwei knapp darunter liegen (Laos und die Malediven). In den übrigen 16 vom CGD untersuchten Ländern liegt das Verhältnis von chinesischen Kreditvergaben zu denen der Pariser Club-Gäubiger deutlich darunter.

Das CGD hatte eine neue Überschuldungsgefahr in insgesamt acht Ländern auf das Seidenstraßen-Projekt zurückgeführt. In diesen muss zumindest konstatiert werden, dass auch traditionelle bilaterale Gläubiger einen erheblichen Anteil an den sich aufbauenden Schuldenständen haben. Chinesische Forderungen gegenüber den Forderungen aller Mitglieder des Pariser Clubs:

Dschibuti10,71:1
Kirgisistan2,43:1
Laos5,88:1
Malediven5,58:1
Montenegro1,74:1
Mongolei2,38:1
Pakistan0,56:1
Tadschikistan3,49:1

Das bedeutet natürlich nicht, dass auch in diesen und den Ländern mit absolut großen aber relativ gesehen weniger bedeutenden chinesischen Kreditvergaben, keine Risiken bestünden. Indes sollten westliche Beobachter die in hohem Maße liquiden chinesischen Geldgeber, die nun in afrikanische und asiatische Anlagesphären drängen, nicht zum Bösewicht in einer Geschichte hochstilisieren, in der das eigene Kapital weiterhin mitmischt.

Financing for Development: Wie wir auch mit Regierungen eng zusammenarbeiten können

Das diesjährigen Financing for Development-Forum im UN-Hauptquartier in New York war für erlassjahr.de eine der seltenen Gelegenheiten, eng mit einigen Regierungen zusammenzuarbeiten: in diesem Fall mit der des ostkaribischen Inselstaates Antigua und Barbuda. Deren UN-Mission, das New Yorker Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung, das neue gegründete Jubilee Caribbean-Netzwerk und wir stellten zusammen den Vorschlag für eine Heavily Indebted Caribbean Countries-Initiative vor. 

Ende Juni beginnt die diesjährige Hurrikan-Saison, und wir wollen, dass, wenn eine oder mehrere der kleinen Inselstaaten ein ähnliches Schicksal erleiden wie im vergangenen Jahr Barbuda oder Dominica, ein sofortiges Schuldenmoratorium erklärt werden kann. In einem Zeitraum von etwa sechs Monaten sollen keinerlei Zahlungen zu leisten sein und ein unparteiisches Umschuldungsverfahren in Gang gebracht werden. Auch einige internationale Organisationen wie das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) unterstützen den Vorschlag, vor allem aber die kanadische Regierung, die als Gastgeberin des diesjährigen G7-Gipfels gute Möglichkeiten hat, eine besondere Initiative in größeren Zusammenhängen zur Sprache zu bringen.

Das Schöne an solchen UN-Foren ist, dass wir solche Vorhaben nicht nur in den geschützten Räumen von Side Events und Fachgesprächen mit internationalen Kolleg/innen diskutieren können, sondern sie auch im Plenum vorstellen. Dann ist man als eine der offiziellen zivilgesellschaftlichen Stimmen des Forums auch schon mal ganz groß im Bild.

Alarm: Der IWF warnt vor neuer Überschuldung in armen Ländern

Im März 2018 veröffentlichte der Internationale Währungsfonds (IWF) unter dem Titel „Macroeconomic Developments and Prospects in Low Income Developing Countries“ eine ausführliche Analyse der wirtschaftlichen Perspektiven und darin insbesondere der Verschuldungssituation von 59 Entwicklungsländern mit niedrigem Einkommen (Low Income Developing Countries, LIDCs).

Die wichtigsten Erkenntnisse sind:

  • Die Schuldenindikatoren einer wachsenden Zahl von Ländern steigen teilweise dramatisch an. In den 59 LIDCs ist das Verhältnis von öffentlichen Schulden zur Wirtschaftsleistung im Mittel um 13,5 Prozentpunkte auf 47 Prozent gestiegen. Das ist deutlich über der untersten Warnmarke für Schuldentragfähigkeit von 40 Prozent.
  • Das Risiko von Zahlungsausfällen nimmt demzufolge deutlich zu. Nur noch 20 Prozent der 59 LIDCs haben ein niedriges Überschuldungsrisiko. Die verbliebenen 80 Prozent verteilen sich zu etwa gleichen Teilen auf die Kategorien „mittleres Risiko“ (überschuldungsgefährdet im Fall externer Schocks) und „hohes Risiko“ (unter dem Basisszenario absehbar überschuldet) sowie solchen Ländern, die bereits Zahlungen einstellen mussten („in debt distress“).
  • Die Bewältigung der daraus entstehenden Krisen ist durch eine dispersere Gläubigerstruktur als in den den Zeiten, als die Mitglieder des Pariser Clubs sowie Weltbank und IWF die wichtigsten Gläubiger waren, deutlich komplizierter geworden.

Über diese Kernaussagen hinaus liefert das Papier eine Fülle von weiteren Detailanalysen, teilweise bis auf die Ebene einzelner Länder. Die wichtigsten sind:

Es ist wichtig, woher die Hartwährungseinnahmen von ärmeren Ländern kommen. Im Hinblick auf ihre Schuldentragfähigkeit kategorisiert der IWF die Länder in „Rohstoffexporteure“– und darin die Untergruppen „Energieexporteure“ (6) und „andere Rohstoffexporteure“ (20) – und diversifizierte Exporteure (33 Länder). Wenig überraschend stellt der IWF fest, dass Länder mit einer diversifizierten Exportstruktur widerstandsfähiger gegen externe Schocks sind als Länder, die vom Export weniger unverarbeiteter Rohstoffe abhängen. Ansteigende Schuldenindikatoren infolge der Deckung von Leistungsbilanzdefiziten konstatiert der IWF aber in allen Ländergruppen. Gegenüber dem Durchschnitt von 2010 bis 2014 waren im Jahr 2017 die Preise für Energieträger 40 Prozent niedriger und für andere Rohstoffe im Schnitt 16 Prozent. Zwar ist im Laufe des Jahres eine leichte Preiserholung für beide Gruppen festzustellen, aber diese fängt die früheren Rückgänge noch bei weitem nicht auf.

Die Überschuldung wächst trotz einiger positiver weltwirtschaftlicher Entwicklungen. Auf der positiven Seite gibt es für ärmere Länder Rückenwind durch das wieder zunehmende globale Wachstum sowie langsam fallende Aufschläge auf Staatsanleihen, die von ärmeren Ländern ausgegeben werden. Sich zu verschulden wird ärmeren Ländern noch immer tendenziell leichter gemacht.

Es ist wichtig, ob Kredite für investive oder konsumtive Zwecke aufgenommen werden, und der Trend geht in Richtung der letzteren. Hinsichtlich der Kreditaufnahme warnt der IWF vor einem Szenario, bei dem die Kreditaufnahme nicht mehr investiven, sondern konsumtiven Zwecken dient, darunter insbesondere der Finanzierung des laufenden, eigentlich nicht mehr tragbaren Schuldendienstes (S. 22). Ein solches Szenario konstatiert der IWF in insgesamt 24 von 34 Ländern, bei denen sich die Situation der öffentlichen Finanzen verschlechtert hat (S. 20).

Neues Geld kommt aus potenziell problematischen Quellen. Verschuldungskategorien von wachsender Bedeutung sind (Tabelle 4, S. 51)

  • Auslandsschulden bei privaten Geldgebern zu (teuren) Marktbedingungen,
  • Auslandsschulden bei öffentlichen Gläubigern, die nicht dem Pariser Club der traditionellen (OECD-)Geber angehören,
  • Schulden bei heimischen Kreditgebern, vor allem dem nationalen Bankensystem sowie Pensionsfonds.

Die gegenüber früheren Szenarien diversifiziertere Gläubigerstruktur kann im Fall einer notwendigen Umschuldung ein erhebliches Koordinationsproblem darstellen. Der Fonds spricht von einem „Wettlauf um den bevorzugten Gläubigerstatus“ (Race to Seniority) zwischen den verschiedenen Gläubigergruppen (S. 81).

Schocks können von unterschiedlicher Art sein. Auch wenn die Auslöser von Überschuldungskrisen häufig nicht eindimensional, sondern komplex sind, kann der IWF die jeweils entscheidenden Faktoren in folgenden Ländern typenmäßig identifizieren:

  • Konfliktländer: Jemen, Burundi, Liberia, Sierra Leone
  • Von Ressourcenmissbrauch und Korruption betroffene Länder: Mosambik, Moldau, Gambia
  • Länder, die vom Rohstoffpreisverfall besonders betroffen waren: Tschad, Republik Kongo, Niger, Nigeria, Papua-Neuguinea, Sambia

In den übrigen 16 Ländern, die wie die oben Genannten einen Anstieg der Schulden im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung von wenigstes zehn Prozent erlebt haben, identifiziert der IWF anhaltende Haushaltsdefizite als die Hauptursache. Dabei sind Haushaltsdefizite eher Auswirkungen von externen Schocks als diese selbst. Besonders wenn Defizite dauerhaft sind, sind sie eher ein Zeichen dafür, dass das betreffende Land sich bereits in der Schuldenfalle befindet, in der Neukreditaufnahme hauptsächlich zur Finanzierung des laufenden Schuldendienstes dient.

Bitte traut unseren Vorhersagen nicht! Der IWF räumt ein (S. 62), dass er 2013 seinen Projektionen anhaltend hohe Rohstoffpreise zugrunde gelegt und Überschuldungsrisiken entsprechend unterschätzt hat (S. 62). Allerdings ist diese Art von Überoptimismus im Hinblick auf diesen oder andere Parameter absolut nichts Neues: Auch in der so genannten „Schuldenkrise der Dritten Welt“ der achtziger und neunziger Jahre hat der IWF Fehleinschätzungen zur Grundlage seiner Politik gemacht und dies inzwischen eingeräumt.

Von alleine wird der beängstigende Trend nicht verschwinden. Schließlich wirft der IWF auch noch einen Blick auf die absehbare Entwicklung in kritisch verschuldeten Ländern. Die aktuellen Vorhersagen in den jeweiligen Schuldentragfähigkeitsanalysen gehen davon aus, dass 9 der 59 LIDCs aufgrund kluger Politik und günstiger Umstände –also ohne Schuldenerleichterungen – ihre Schulden im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung bis 2021 um wenigstens zehn Prozent reduzieren werden. Allerdings (S. 76) weist der IWF selbst darauf hin, dass die entsprechenden historischen Erfahrungen mit solchen Vorhersage nicht ermutigend sind. Gerade einmal sieben Länder haben es seit 2000 bis heute infolge einer Mischung aus kluger Politik und glücklichen Umständen geschafft, diesen Weg zu gehen.

Bomben im Keller: Öffentlich-Private Partnerschaften. Interessanterweise handelt der IWF Öffentlich-Private Partnerschaften (ÖPPs) im Kontext von Unzulänglichkeiten in der Datenerhebung ab. Die öffentliche Verantwortung für private Finanzierungen im Rahmen von ÖPPs kann in seiner Befürchtung zu „bösen Überraschungen“ (S. 87) führen, obwohl in nur wenigen Ländern der Kapitalstock im Rahmen von ÖPPs mehr als 10 Prozent des BIP ausmacht. Der Trend unter 40 Ländern, die Daten zu ÖPPs ausweisen, ist allerdings von 2000 bis 2014 ein deutlich zunehmender.

Kein „Vertrag zwischen Gleichen“ – Yanis Varoufakis erzählt die Geschichte von Griechenlands Unterwerfung unter die Troika

 

Aus der privilegierten historischen Perspektive wissen wir heute, wie viel klüger es gewesen wäre, Griechenland schon in der Frühphase seiner Krise ab 2009 einen weit reichenden Schuldenerlass zu gewähren. Der kurzzeitige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis erzählt in einem äußerst lesenswerten Buch, wie und warum es dazu kam, dass zwischen 2010 und heute genau dies nicht passiert ist.

Was die Griechenlandkrise – außer ihren Dimensionen – von anderen Staatsschuldenkrisen unterscheidet, ist der Paradigmenwechsel von Anfang 2015. Bis zum Ende des Vorjahres arbeiteten sozialdemokratische und konservative Regierungen in einem stillschweigenden Konsens mit den Gläubigern, die Krise mithilfe öffentlicher Rettungsmittel auszusitzen. Nachdem diese Politik das Land dramatisch verarmt und einer Überwindung des Schuldenproblems keinen Schritt näher gebracht hatte, übernahm nach den Wahlen Anfang 2015 die noch junge linke Sammlungsbewegung Syriza die Regierung in Athen. Auf der Grundlage der Vorschläge des parteilosen Finanzministers Varoufakis unterbreitete sie den Gläubigern ihre eigenen Vorschläge für Reformen im Gegenzug für Schuldenerleichterungen, die dem Land tatsächlich die für die Reformen notwendigen finanziellen Spielräume verschafft hätten.

Dieses frecherweise vom Schuldner selbst erarbeitete Alternativprogramm zu dem noch kurz zuvor von der Vorgängerregierung Samaras mit der Troika vereinbarten – und sogar nach Ansicht von Troika-Mitgliedern vollkommen dysfunktionalen – Memorandum ist die zentrale Auseinandersetzung der bewegten ersten sechs Monate des Jahres 2015.

Die Geschichte von Varoufakis’ Amtszeit ist die seines eigenen Missverständnisses, dass nämlich die Gläubiger repräsentiert durch die Troika unter Führung des deutschen Finanzministers bereit sein könnten, einen „Vertrag unter Gleichen“ (öfter zitiert er in dem Zusammenhang diesen Begriff von Rousseau) abzuschließen, der am Ende allen nützt. Da der Minister viele der Gespräche mit seinen Partnern in der Troika heimlich aufgezeichnet hat – und von dieser Indiskretion im Buch ziemlich skrupellos Gebrauch macht – bekommen wir einen mitunter schmerzhaft eindringlichen Nachweis, dass es Schäuble & Co nie darum ging, die griechische Krise zu überwinden und ihr Geld zurückzubekommen. Vielmehr zielte ihre Politik gegenüber Griechenland darauf, die Hegemonie des Austeritäts-Modells in Europa unter allen Umständen aufrecht zu erhalten. Die ebenfalls bedenklich steigenden Schuldenindikatoren in Spanien, Italien und letztlich auch Frankreich waren, was den deutschen Finanzminister umtrieb. Spaniern, Italienern und Franzosen sollte am griechischen Beispiel in aller Deutlichkeit signalisiert werden, dass an Austerität, Sozialstaatsabbau und Privatisierung kein Weg vorbei führen würde. Dass die kommunistischen Hallodris in Athen dabei als Kollateralschaden gedemütigt werden würden, wurde – demokratische Wahl hin, Referendum her – in Berlin schon wegen des undemütigen Auftretens des dortigen Finanzministers mehr als nur billigend in Kauf genommen.

Der Satz von den Spieltheoretikern in der zum Teil kommunistischen Regierung, deren überzogene Wahlversprechen nicht von deutschen Arbeitnehmern und ihren Familien bezahlt werden sollten“, stammt dabei nicht von Schäuble, sondern vom damaligen Wirtschafts- und heutigen Außenminister Sigmar Gabriel in der Bildzeitung. Freundlich nickende Sozialdemokraten, die dann in der Öffentlichkeit nichts oder das Gegenteil von dem sagen, wozu sie zuvor genickt haben, tauchen in Varoufakis’ Geschichte des Öfteren auf. Namen wie Zettelmeyer und Asmussen sind in ähnlichen Zusammenhängen auch in der erlassjahr.de-Geschichte keine Unbekannten.

Die griechische Erzählung macht auf eine fast schon entmutigende Weise deutlich, wie wenig gesunder Menschenverstand im Gegensatz zu vordergründigen politischen Interessen der Gläubiger bei der Krisenüberwindung tatsächlich zählt. Macht man sich klar, wieviel schwächer die Verhandlungsposition eines gerade zahlungsunfähig gewordenen Landes wie Mosambik oder des Tschad gegenüber seinen Gläubigern im Verhältnis zu der Griechenlands ist, versteht man noch besser, warum faire und ausgewogene Vorschläge für einen Ausgleich zwischen Schuldnern und Gläubigern seit Jahren an dem unbedingten Machtwillen der letzteren scheitern.

In Deutschland erinnert man sich vielleicht noch an die verschiedenen Bemühungen, Yanis Varoufakis persönlich das Image eines unberechenbaren motorradfahrenden Radikalinskis innerhalb einer ohnehin schon radikal unberechenbaren Bewegung zuzuschreiben (Stinkefinger und #Varoufake). Schaut man sich die tatsächlichen Vorschläge des Ministers während seiner kurzen Amtszeit an – und seine Auseinandersetzungen mit der real existierenden „Don’t owe – won’t pay“-Fraktion bei Syriza – erweisen sich solche Zuschreibungen als perfide Inszenierungen, um realistische und auf Ausgleich bedachte Vorschläge zu diskreditieren. Das ohnehin schon wie ein Wirtschaftskrimi zu lesende Buch kommt in solchen Zusammenhängen sogar auf ein paar Actionszenen.

Natürlich sind Varoufakis’ Erinnerungen subjektiv. Durch die wörtlichen Zitate sind sie aber von einer bestürzenden Authentizität. Sie lesen sich auch deshalb sehr angenehm, weil der Autor nach seinem schmerzhaften Ausscheiden aus dem Amt eben nicht ein gekränktes Ego streichelt, sondern durchaus auch selbstkritisch Bilanz seiner eigenen Fehleinschätzungen und -entscheidungen trifft. Furchtbar gern würde man nun auch die andere Seite hören: die gleich Geschichte aus den Federn der Damen und Herren Lagarde, Draghi und Schäuble.

Stürzende Banker, Umzugskartons und ein Telefon in Mexiko-Stadt

Von großen Wirtschaftskrisen bleiben manchmal bestimmte Bilder im Gedächtnis der Menschen haften: aus den Fenstern springende Banker an der Wallstreet des Jahres 1929 oder leere deutsche Autobahnen, als der Anstieg der Ölpreise 1973 die Weltwirtschaft aus den Fugen brachte. 2008 sprangen in New York keine Banker mehr aus Fenstern (wäre ja auch schade um die Millionen Boni, die sie sich zuvor genehmigt hatten), aber immerhin verließen einige ziemlich hektisch mit Umzugskartons unterm Arm ihre Büros bei Lehman Brothers.

Vor genau 35 Jahren gab es überhaupt keine spektakulären Bilder, als der mexikanische Finanzminister am 12. August 1982 ein paar Telefongespräche mit seinen US-amerikanischen Gläubigerbanken und mit dem Internationalen Währungsfonds führte. Dabei war das, was dort geschah, für eine große Zahl von Menschen nicht weniger dramatisch als die Weltwirtschaftskrisen von 1929 oder 2008: Minister Silva-Herzog teilte seinen Gläubigerbanken mit, dass sein Land die anstehenden Rückzahlungen auf fällige Kredite nicht mehr würde bedienen können. Mit diesen Telefongesprächen begann das, was danach „die Schuldenkrise der Dritten Welt“ genannt wurde, denn nach Mexiko stellten bald weitere Länder in Lateinamerika, Asien und Afrika die Zahlungen an ihre Gläubiger vorübergehend ein. Millionen von Menschen auf den drei Kontinenten gerieten in einem „verlorenen Entwicklungsjahrzehnt“ in tiefes Elend oder starben einen leisen und unspektakulären frühen Tod. Die globale Entschuldungsbewegung, zu der auch erlassjahr.de gehört, verdankt dieser Katastrophe ihre Existenz.

Gemeinsam haben alle genannten Krisen, dass als allererste Reaktion versucht wurde, die Interessen der Gläubiger zu schützen. In der Regel dadurch, dass die Staaten sich selbst verschuldeten, um den Schuldendienst insolventer Staaten an private Gläubiger und Anleger künstlich aufrecht zu erhalten. Das führte dann zu einer Verlagerung, nicht aber zu einer Überwindung der Krise.

Ideologisch untermauert wurde diese Art der „Krisenbewältigung“ mit Glaubenssätzen wie dem, dass Staaten eigentlich nicht pleitegehen können oder dass eine Abschreibung von Forderung der Banken, der Gläubigerregierungen oder auch der Internationalen Finanzinstitutionen IWF und Weltbank unweigerlich den Zusammenbruch des Weltfinanzsystems zur Folge haben würde. Das wiederum würde Millionen Menschen in den ärmsten Ländern gerade erst recht ins Elend stoßen – woran dann letztendlich die törichte Forderung nach Schuldenerlass aus dem Munde der naiven Nichtregierungsorganisationen, Kirchen und anderer Gutmenschen schuld sei.

Nirgendwo haben sich diese Glaubenssätze je als zutreffend erwiesen. Vielmehr führte die in Mexiko begonnene Krise zu einer um sich greifenden Welle von Staatspleiten, denen erst 2005 mit der fast vollständigen Streichung aller Schulden der ärmsten Länder unter der Multilateral Debt Relief Initiative (MDRI) von Weltbank und IWF wirksam und im Sinne eines wirklichen Neustarts für die überschuldeten Länder begegnet wurde. Zwischen 1982 und 2005 hatten mal lächerlich kleine, mal etwas größere Zugeständnisse die betroffenen Länder mühsam am Leben gehalten.

erlassjahr.de hat gezeigt, auf welch bestürzende Weise die westlichen Gläubiger die damaligen Fehler in der Griechenlandkrise wiederholt haben. Auch dort hätte ein rascher Schuldenschnitt bei Krisenausbruch im Jahr 2010 den Griechen Jahre einer sinnlosen Austeritätspolitik und den europäischen Regierungen einen Anstieg der eigenen Verschuldung zur Finanzierung des Schuldendienstes an Griechenlands Gläubiger ersparen können.

Noch erschreckender: Auch in zahlreichen Ländern, die 2005 aufwändig und auf Kosten von Steuerzahlern im Globalen Norden entschuldet werden mussten, liegen die Schuldenindikatoren schon fast wieder so hoch wie damals. Würde die internationale Gemeinschaft, die heute etwa durch die G20 potenziell handlungsfähiger ist als damals, tatsächlich im Interesse globaler Stabilität handeln, würde sie heute die Möglichkeit zu einer wirksamen Entschuldung schaffen – bevor die nächsten Finanzminister zum Hörer greifen.

Vergib uns unsere Schuld(en), wie auch wir vergeben unsern Schuldnern

Die meisten Christ/innen sprechen diesen Satz im sonntäglichen Gottesdienst mit und denken dabei an moralische Verfehlungen, die das Wort, das Luther aus dem griechischen Urtext mit „Schuld“ übersetzt, auch bedeuten kann. Es hat aber auch die Bedeutung von „Geldschulden“, und was Jesus in der Bergpredigt gemeint hat, ist durchaus offen.

Beziehen wir die eher materielle als moralische Interpretation auf die Schulden, die Staaten bei ihren ausländischen Gläubigern tatsächlich haben, dann entfaltet die Vaterunser-Bitte eine bemerkenswerte politische Sprengkraft. Und dies noch mehr, wenn man sie in den Kontext der alttestamentlichen Rechtsfigur des Erlassjahres setzt.

Beim Hamburger G20-Gipfel hat die Gemeinde St. Jacoby erlassjahr.de zur Predigt über dieses Thema eingeladen. Hier geht’s zum Text der Predigt.

IWF/Weltbank-Jahrestagung: Informationen und tierische Schwätzer

Das Programm von erlassjahr.de bei der Jahrestagung von IWF und Weltbank begann gestern Abend mit dem Townhall Meeting für die Zivilgesellschaft. Dabei gewähren die Spitzen von IWF und Weltbank der nicht-regierungsamtlichen Öffentlichkeit huldvoll eine Stunde ihrer kostbaren Zeit. Einem prall gefüllten Auditorium – ich fand nur noch Platz in einem der Übertragungsräume – beantworten sie ausgewählte Fragen. Und andere nicht.jimkim

Ich bin von Herzen froh, dass wir relativ wenig mit der Weltbank zu tun haben. IWF-Chefin Christine Lagarde sagte immerhin ein paar Dinge, die wirklich Neuigkeitswert für uns hatten; so sprach sie unter anderem über die Bemühungen des Fonds, die Kosten für die Erreichung der SDGs in künftige Schuldentragfähigkeitsanalysen hineinzurechnen. Ich habe so etwas vor zehn Jahren bei UNDP mal versucht und wünsche ihr und ihren Leuten dabei von Herzen viel Erfolg. Optimistisch, dass man halbwegs kohärent einen solchen Finanzierungs- und gegebenenfalls auch Entschuldungsbedarf berechnen kann, bin ich nicht.

Geradezu unerträglich war dagegen der frisch wiedergewählte Weltbank-Präsident Jim Kim. Der war mir letztes Jahr in Lima schon mit einem schwer erträglichen Diskurs bös aufgefallen. Gestern wies er unabhängig von der gestellten Frage in einer Tour darauf hin, dass die Bank vollkommen unersetzlich sei. Mein aufrichtiges Mitgefühl gilt den Freunden von Urgewald, die alle Nase lang mit diesem Typen und seinen Leuten zu tun haben.

Nicht wenige von uns haben die Veranstaltung dann tapfer bis zum Ende abgesessen, weil es am Ende noch einen großen Empfang in der eindrucksvollen Lobby der Weltbank gab. Dass dort ein selbst für amerikanische Verhältnisse ungenießbarer Bier-Ersatz ausgeschenkt wurde, hat – wie man leicht merken kann – nicht zur Besserung meiner Laune beigetragen.

Heute Morgen fand dann das erste unserer eigenen Side-Events statt. Es ging um die Reform des Schuldentragfähigkeitsrahmenwerks (doch das heißt so: Debt Sustainability Framework). Patricia Miranda von LATINDADD, Tiri Mutazu von AFRODAD und ich formulierten die gebotenen kritischen Fragen an den freundlichen Herrn Flanagan vom IWF. Ein mit 40 Teilnehmer/innen gut gefüllter Saal, gutes Diskussions-Niveau. Am Ende waren wir alle recht zufrieden. Mal sehen, ob wir Spuren unserer auch schriftlich eingereichten Vorschläge im weiteren Prozess werden ausmachen können.harald-der-geier

Gleich beginnt nun die Podiumsdiksussion zur Anti-Geier-Gesetzgebung mit einer belgischen Parlamentarierin und Gerhard Schick, Grüner MdB aus Mannheim. Die IWF-Vertreterin hat diesmal gekniffen. Dafür habe ich einen Überraschungsgast mitgebracht, der sonst auf unsere Ausstellung aufpasst. Wir präsentieren zum allerersten Mal auf der weltweiten erlassjahr-Bühne: Harald, den niederträchtigen kleinen Geier aus Deutschland (Bildmitte)!

Ist Schulden Streichen gut oder schlecht für das Wirtschaftswachstum? Eine Studie des IWF sagt, was der IWF eigentlich nicht sagen darf

Schulden müssen unter allen Umständen bezahlt werden. Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen wie der HIPC-Initiative kann es ausnahmsweise mal angebracht sein, Schulden zu streichen. Und auch dann ist es hoch-problematisch, weil es dazu führen kann, dass Länder keine Kredite mehr bekommen und das Wirtschaftswachstum einbricht. Continue reading “Ist Schulden Streichen gut oder schlecht für das Wirtschaftswachstum? Eine Studie des IWF sagt, was der IWF eigentlich nicht sagen darf”

Mosambik-Schuldenkonferenz: Kleine Nachtschicht

Seit heute morgen um 9 Uhr hat die Konferenz des Grupo da Divida die Ergebnisse von gestern verarbeitet und verschiedene neue Inputs der internationalen Partner angehört. Als ich den Eindruck hatte, jetzt sei aber wirklich Zeit fürs Mittagessen – so gegen 15:30 Uhr – wurde ich zur Plenumsdiskussion meines Beitrags und denen der Kolleg/innen von AFRODAD und aus Malawi noch mal aufs Podium gebeten. Die Lust am miteinander Debattieren hat hier wirklich Palaverbaum-Qualitäten. Keiner beschwerte sich, als die Agenda der Tagung (wieder) komplett aus dem Ruder lief. Das hatte natürlich auch damit zu tun, dass als abschließendes Highlight der Präsident des Haushaltsausschusses des Parlaments und der Präsident des Rechnungshofes zu den skandalösen Finanzierungen für EMATUM, Proindicus und MAM Stellung nahmen.

Man erfuhr in der Runde, die das Mittagessen um weitere zwei Stunden nach hinten verschob, nichts fundamental Neues, aber zahlreiche weitere Details.

Und jetzt (18:45) sitzen wir im Plenum, um eine zwei Seiten lange Abschlusserklärung gemeinsam zu diskutieren. Und während meine Kollegin Sarah von der britischen Jubilee Debt Campaign und ich dem langen Tag und dem Mangel an Sauerstoff Tribut zollen, ist die Lust unserer mosambikanischen Kolleg/innen an der Debatte vollkommen ungebrochen. Nicht besonders dramatische Formulierungsfragen werden mit Leidenschaft quer durch den Saal mit immer neuen Ideen bereichert. Der Mann am Computer, der eigentlich der Redakteur sein sollte, erweist sich als meinungsstarker Koautor mit jeder Menge eigener und spontaner neuer Ideen. Die Uhrzeit scheint hier keinen – der nicht ohnehin schon die 30IMG_0095km zurück nach Maputo gefahren ist – zu interessieren. Auch die beiden Big Shots der Abschlussrunde sind noch da und bringen sich in die Diskussionen um korrektes Hoch-Portugiesisch engagiert ein.

Unsere Kollegin Gina dos Reis, die Generalsekretärin des Grupo da
Divida (Bild), ist sehr glücklich über die offene Diskussion, den Eindruck von Dringlichkeit und die große Reichweite des Workshops, zu dem Akivist/innen aus allen Teilen des Landes angereist sind. Wir unsererseits hoffen auf die baldige Entstehung eines Arbeitszusammenhangs zwischenGrupo da Divida, Regierung und Parlament, die an einem Plan für faire und effiziente Schuldenrestrukturierungen arbeitet.