Sieg fürs Kapital – Gefahr für die Demokratie Teil II: Verwobene Machtstrukturen in internationalen Schuldenrestrukturierungen 

Sri Lanka hat gewählt – doch der Handlungsspielraum des neuen linken Präsidenten Dissanayake ist stark eingeschränkt. Mit dem Versprechen, das Kreditprogramm mit dem IWF sowie die laufenden Umschuldungsverhandlungen neu auszuhandeln, trat er an. Nur zwei Wochen nach Amtsantritt gab er dieses Vorhaben jedoch auf und akzeptierte einen Schuldendeal, der stark zugunsten der Gläubiger ausfällt. 

In Teil I der Blogreihe habe ich die Bedeutung einer Neuaushandlung und die sozialen sowie politischen Konsequenzen von Dissanayakes Kehrtwende erörtert. In Teil II beleuchte ich nun, wie der laufende Klageprozess zwischen der Hamilton Reserve Bank und Sri Lanka einen Einblick in die vielschichtigen Mechanismen gibt, über die auf den neuen Präsidenten Druck ausgeübt wurde.

Vorgeschichte: Zwischen Krisen, Klage und Austeritätsauflagen

Trotz multipler Krisen und hoher Schuldendienstbelastungen versuchte Sri Lanka lange, seine Gläubiger weiter auszuzahlen und vermied Umschuldungsverhandlungen. Das änderte sich im Frühjahr 2022, als der öl- und weizenimportierende Inselstaat von den weltwirtschaftlichen Folgen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine erneut schwer getroffen wurde. Im April 2022 blieb dem Land keine andere Möglichkeit, als die Rückzahlungen einzustellen und Umschuldungsverhandlungen aufzunehmen. 

Öffentliche Gläubiger – darunter die Bundesregierung – sowie ein Großteil der privaten Gläubiger erklärten sich bereit, mit Sri Lanka über eine Schuldenrestrukturierung zu verhandeln. Wie üblich machten die öffentlichen Gläubiger dafür die Aufnahme eines IWF-Kreditprogramms zur Bedingung. Im Rahmen dieses Programms wurde Sri Lanka zu harten Austeritätsauflagen verpflichtet, während die Schuldenerleichterungen völlig unzureichend ausfielen. 

Ein privater Gläubiger, die Hamilton Reserve Bank, lehnte Verhandlungen jedoch von Anfang an ab: Im Juni 2022 reichte die Investmentbank mit Sitz im Steuerparadies St. Kitts und Nevis eine Klage beim New Yorker Gericht ein und forderte die vollständige und sofortige Rückzahlung ihrer Forderungen.

April 2022 – Juli 2024: Enges Zusammenspiel zwischen Übergangsregierung und internationalen Akteuren

Die Übergangsregierung unter Wickremesinghe trieb die Umschuldung schnell voran und peitschte Reformen und Gesetzesänderungen im Rekordtempo durch das Parlament – ganz im Sinne der internationalen Gläubiger und ihrer wirtschaftspolitischen Ideologie. Die Klage der Hamilton Bank stieß daher zunächst auf Ablehnung der westlichen Staaten, da sie den reibungslosen Ablauf dieses Umschuldungsprozesses zu gefährden drohte. Die Bank agierte zunächst zu plump, um das politische Druckpotenzial, das in solchen Klagen begründet liegt, voll auszuschöpfen. 

Sowohl die US-Regierung als auch das Pariser Club-Sekretariat unterstützten Sri Lanka durch Stellungnahmen vor Gericht, als das Land im Juli 2023 und Februar 2024 die Aussetzung des Klageprozesses beantragte. Sie argumentierten, dass ein Urteil zugunsten der Bank den Restrukturierungsprozess gefährde. Die US-Regierung betonte zudem, dass ein erfolgreicher Umschuldungsprozess im Rahmen des IWF-Programms in ihrem geopolitischen Interesse liege. Zuletzt wurde der Prozess so auf Anweisung des Gerichts bis zum 1. August 2024 pausiert

Als die Pausierung am 1. August endete, war die Restrukturierung mit den privaten Gläubigern noch nicht abgeschlossen. Daher beantragte Sri Lanka Ende Juli 2024 erneut die Aussetzung. Während der Pariser Club im Februar 2024 sofort eine Stellungnahme einbrachte und die US-Regierung sich zwei Wochen später äußerte, dauerte es diesmal rund drei Wochen, bis der Pariser Club eine Stellungnahme einreichte. Die US-Regierung reichte erstmals keine Stellungnahme zur Unterstützung Sri Lankas ein. Dies könnte damit zusammenhängen, dass sich der Regierungswechsel bei den Präsidentschaftswahlen im September zu diesem Zeitpunkt schon deutlich abzeichnete. Der linke Kandidat Dissanayake, der für eine Neuverhandlung des IWF-Programms eintrat, lag in den Umfragen deutlich vorne. 

August 2024: Letzte Amtshandlung: Politischen Wandel erschweren

Im August 2024 wandten sich erstmals auch die privaten Gläubiger des Anleihehalter-Komitees an das Gericht, dem nach eigenen Angaben „einige der weltweit größten Finanzinstitutionen angehören“. In ihrer Intervention vom 28. August, die sich explizit auf den Antrag Sri Lankas auf eine weitere Pausierung bezog, erklärten die privaten Gläubiger:  

„Angesichts der Unsicherheiten im Zusammenhang mit den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Sri Lanka [am 21.09.2024] (…) ist das Anleihehalter-Komitee besorgt, dass eine Verzögerung die bedeutenden Fortschritte, die Sri Lanka gemacht hat, gefährden könnte (…) das Komitee positioniert sich nicht bezüglich des Antrags auf Pausierung, das Komitee hält es aber für entscheidend, dass die Umstrukturierung der Anleihen bis Mitte September 2024 eingeleitet wird.“

(eigene Übersetzung und Hervorhebung)

Auch wenn das konkrete Ziel der Intervention im Zusammenhang mit dem Hamilton-Fall unklar bleibt, wird daran deutlich, dass die Anleger sämtliche Kanäle nutzten, um den Abschluss der Restrukturierung noch vor dem Regierungswechsel zu erzwingen.

Am 19. September 2024, also zwei Tage vor der Präsidentschaftswahl, reagierte die sri-lankische Übergangsregierung öffentlich und verkündete, dass sie mit dem Komitee der Anleihehalter eine vorläufige Vereinbarung geschlossen habe. Dabei handelte es sich noch nicht um eine rechtsverbindliche Restrukturierung. Durch die öffentliche Bekanntgabe des vorläufigen Deals versuchte die Regierung des abdankenden Übergangspräsidenten jedoch, eine Neuaushandlung nach der Präsidentschaftswahl zu erschweren.

September 2024: Ein „marxistischer Außenseiter“ wird gewählt

Am 21. September wurde Dissanayake mit deutlicher Mehrheit gewählt. Kurz nach der Wahl verkündeten der IWF sowie die öffentlichen Gläubiger, dass sie die vorläufige Vereinbarung mit den Anleihehalter-Komitee akzeptieren – obwohl private Gläubiger damit schätzungsweise 21 Prozent weniger Erleichterungen gewähren als öffentliche Akteure. Das widerspricht eigentlich dem Prinzip der Gleichbehandlung, das öffentliche Gläubiger bei Umschuldungen einfordern, damit öffentlich gewährte Erleichterungen keine privaten Gewinne finanzieren. Die Zustimmung war ein entscheidender Schritt, um die Umschuldungsverhandlung mit den Anleihehaltern so zum Abschluss zu bringen, wie sie vor der Wahl eingestielt wurde. Eine neue Aufnahme der Verhandlungen, wie sie Dissanayake zu diesem Zeitpunkt noch anstrebte, wurde dadurch erschwert.  

Am 1. Oktober wandte sich die Hamilton Reserve Bank erneut an das Gericht und warnte davor, den Antrag auf eine weitere Pausierung stattzugeben: 

„Die Regierung von Präsident Ranil Wickremesinghe hatte die Umstrukturierungsverhandlungen mit den Gläubigern und dem IWF geleitet. Doch am 21. September 2024 (…) gewann ein marxistischer politischer Außenseiter, Anura Kumara Dissanayake, die Präsidentschaftswahlen (…). Dissanayakes überraschender Sieg hat das Land in politische Ungewissheit gestürzt (…). Während Sri Lanka wiederholt spekuliert hat, dass dieser Rechtsstreit ‚ernsthafte Risiken für den Erfolg‘ seiner Umstrukturierung darstellen könnte, scheint die neue Führung Sri Lankas selbst das größte Risiko für diese Ziele darzustellen (…) ein weiterer Aufschub ist nicht gerechtfertigt.“

(eigene Übersetzung und Hervorhebung)

Hamilton griff somit die Argumentation auf, die zuvor von der sri-lankischen Übergangsregierung, den USA und dem Pariser Club vertreten und vom Gericht nicht für die Ablehnung, sondern für die Gewährung der bisherigen Moratorien übernommen worden war: dass der Rechtsstreit die Umschuldung gefährde, die auf dem aktuellen IWF-Programm basiert, und die Moratorien notwendig seien, um diesen – ansonsten gut laufenden Prozess – nicht zu unterbrechen. 

Oktober 2024: Der Präsident knickt ein

Am 4. Oktober versicherte die sri-lankische Vertretung dann vor Gericht, dass man sich dem IWF-Programm sowie der Vereinbarung mit dem Anleihehalter-Komitee weiterhin verpflichtet fühle und keine Neuverhandlungen anstrebe: 

„Die Hamilton Reserve Bank spekuliert, dass die Umstrukturierungsbemühungen Sri Lankas durch die jüngsten Präsidentschaftswahlen untergraben wurden (…). Die Bank ist falsch informiert (…) Sri Lanka bleibt dem Restrukturierungsprozess verpflichtet (…) die sri-lankischen Behörden haben ihre Zustimmung zu den IWF-Zielwerten und der Vereinbarung vom 19. September 2024 mit Vertretern des Anleihehalter-Komitees bestätigt.

(eigene Übersetzung und Hervorhebung)

Damit begrub der neu gewählte Präsident nach weniger als zwei Wochen eines seiner wichtigsten Vorhaben. 

Wie ist die Kehrtwende des Präsidenten zu verstehen?  

Die Kehrtwende des Präsidenten lässt sich nicht nur im Zusammenhang mit dem Klageprozess verstehen. Kurz nach den Präsidentschaftswahlen hatte es auch Treffen zwischen IWF-Mitarbeitenden und dem neuen Präsidenten gegeben. Was dort sowie in weiteren bilateralen Gesprächen besprochen wurde, dürfte einen erheblichen Einfluss auf den raschen Kurswechsel des Präsidenten gehabt haben. Wenngleich nicht bekannt ist, wie die Gespräche abliefen, ist offensichtlich, dass man von Seiten des IWF sowie vermutlich auch von den westlichen und östlichen Gläubigerstaaten keine Bereitschaft signalisiert hat, sich auf konstruktive Neuverhandlungen einzulassen. 

Der Klageprozess ist in diesem Kontext von Interesse, da dabei deutlich wird, dass die Unterstützung vor Gericht durch die westlichen Staaten eng daran geknüpft war, dass Sri Lanka die Maßnahmen des IWF willfährig umsetzt. Hätte der neue Präsident an seinem Vorhaben festgehalten und die Verhandlungen mit dem IWF und den Gläubigern neu aufgenommen beziehungsweise diese konfliktiver geführt, hätte Sri Lanka diese Unterstützung vor Gericht voraussichtlich gefehlt. Hinzu kommt, dass gegebenenfalls weitere private Gläubiger den Klageweg beschritten hätten. 

Auch ganz unmittelbar drohte von dem Prozess eine unangenehme Signalwirkung auszugehen. Zum Zeitpunkt Dissanayakes Wahl stand die Entscheidung über die Gewährung eines weiteren Moratoriums noch aus – was auch damit zusammenhängen könnte, dass die US-Regierung diesmal keine unterstützende Stellungnahme einreichte und andere Staaten dies erst mit Verzögerung taten. Eine Ablehnung durch das Gericht hätte nicht nur weitere negative Auswirkungen eines entsprechenden Gerichtsstreits nach sich gezogen, sondern wäre vermutlich auch medial ein gefundenes Fressen gewesen, um den „Marxisten“ Dissanayake wirtschaftspolitisch und diplomatisch als unfähig darzustellen.

Wie geht es mit dem Klageprozess weiter?

Das Gericht stimmte am 15.11., das heißt deutlich nach dem Kurswechsel des Präsidenten, dem Antrag von Sri Lanka zu und pausierte den Prozess bis zum 30.11. Bis dahin wird der Anleihetausch aller Voraussicht nach nicht final abgeschlossen sein. Es ist somit davon auszugehen, dass Sri Lanka Ende November erneut einen Antrag auf Pausierung einbringen wird, der Anleihetausch vermutlich aber bereits durchgeführt ist, bevor das Gericht über den Antrag auf eine erneute Pausierung entscheidet. 

Aktuell ist jedoch noch nicht abzusehen, ob die Hamilton Reserve Bank sich am Anleihetausch beteiligen wird. Der Deal ist grundsätzlich vorteilhaft für die Gläubiger: Sie nehmen keine echten Verluste hin und erzielen weiterhin vergleichsweise hohe Renditen. Dies gilt insbesondere für die Hamilton Bank, die ihre Anleihen zwischen August 2021 und Juni 2022 zu stark reduzierten Preisen auf dem Sekundärmarkt aufkaufte, als Sri Lanka bereits tief in der Krise steckte. Es ist daher durchaus möglich, dass die Bank dem Deal zustimmt und ihre Klage einstellt. Andererseits setzte sie von Anfang an auf ein hohes Risiko und investierte bereits erhebliche Prozesskosten. 

Ob ein Anleihetausch ohne die freiwillige Beteiligung der Hamilton Bank möglich ist, ist indes ungewiss. Um die Bank zu überstimmen, braucht es eine Mehrheit von 75 Prozent. Nach eigenen Angaben hält die Bank Forderungen im Umfang von 250,19 Millionen US-Dollar und damit exakt die nötige Sperrminorität der 1 Milliarde schweren Anleihe. Wenn diese Angaben korrekt sind und die Hamilton Bank einer Restrukturierung nicht freiwillig zustimmt, hat sie weiterhin das Recht, ihre Forderung in voller Höhe vor Gericht einzutreiben. Sollte die Bank damit vor Gericht Erfolg haben, bliebe die Frage, ob die sri-lankische Regierung dem Urteilsspruch folgen wird – und welche Auswirkungen dies auf die Vereinbarung mit den übrigen Gläubigern hätte. Eine vorteilhafte Auszahlung einzelner Gläubiger kann dazu führen, dass Restrukturierungsvereinbarungen mit anderen Gläubigern nichtig werden. Verweigert die Regierung hingegen die Zahlung, könnte die Bank versuchen, sri-lankisches Auslandsvermögen zu pfänden, was jedoch auch für die Bank ein riskanter und kostspieliger Prozess wäre.

Fazit: Das Recht auf Entschuldung

Einmal mehr werden in diesem Prozess die Schwachstellen der aktuellen Ausgestaltung der internationalen Schuldenarchitektur sichtbar: Bei jedem anderen Schuldgeschäft existieren klare Vorgaben, wann Forderungen nicht mehr in vollem Umfang eingeklagt werden können und das Recht des Gläubigers auf Rückzahlung eingeschränkt werden muss – etwa, wenn dies im Konflikt mit dem Recht des Schuldners auf ein Leben in Würde steht. Für Staatsschulden gilt dies nicht, und jede Erleichterung wird als Zugeständnis und Entgegenkommen der Gläubiger angesehen. 

Es braucht daher verbindliche Regelungen: Ein etabliertes und institutionell durchsetzbares Recht auf Streichung untragbarer und illegitimer Schulden sowie Gesetze, die private Gläubiger dazu verpflichten, sich an diesen Streichungen zu beteiligen. 

Quellen

  • Pfeiffer, B. (28.08.2024) “Leave to File Amicus Submission”. Dokument 118 im Fall 1:22-cv-5199 DLC (Hamilton Reserve Bank Ltd. v. The Democratic Republic of Sri Lanka).
  • Bleichmar, J. (01.10.2024), Dokument 122 im Fall 1:22-cv-5199 DLC (Hamilton Reserve Bank Ltd. v. The Democratic Republic of Sri Lanka).
  • Houck, R. G. (04.10.2024), Dokument 123 im Fall 1:22-cv-5199 DLC (Hamilton Reserve Bank Ltd. v. The Democratic Republic of Sri Lanka).

Alle Gerichtsdokumente sind nach Anmeldung hier einsehbar: https://pacer.uscourts.gov

Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag wurde erstmals am 15.11.2024 unter dem Titel „Sieg fürs Kapital – Gefahr für die Demokratie Teil II: Abuse of power comes as no surprise“ online gestellt. Am 18.11. wurde er inhaltlich überarbeitet, um die Urteilssprechung vom 15.11. und eine bei Gericht postalisch eingereichte Stellungnahme des Pariser Clubs einzuarbeiten, die zuvor nicht aufgenommen worden war.

Sieg fürs Kapital – Gefahr für die Demokratie Teil I: Sri Lankas neugewählter linker Präsident rückt von seinen Vorhaben ab

Sri Lanka hat gewählt. Doch hohe Schuldendienstzahlungen und strikte Auflagen des IWF schränken den politischen Handlungsspielraum des neu gewählten Präsidenten stark ein – mit gravierenden sozialen Folgen und der Gefahr, das Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie zu untergraben.

Wahlen nach zwei Jahren Übergangsregierung

Mehr als zwei Jahre nach den großen Protesten im Frühjahr 2022 fand am 21. September 2024 in Sri Lanka der erste Urnengang seit den Unruhen statt. Trotz der Flucht des damaligen Präsidenten Gotabaya Rajapaksa infolge der Proteste hatte es bis dahin keine Neuwahlen gegeben. Stattdessen wurde 2022 eine Übergangsregierung unter Ranil Wickremesinghe gebildet, die in den Augen vieler Sri Lanker*innen keine Legitimität besaß. Wickremesinghe setzte Kommunalwahlen mit fadenscheinigen Argumenten aus und ging hart gegen zivile Proteste vor. Der autoritär regierende Übergangspräsident versuchte auch die Präsidentschaftswahlen weiter hinauszuzögern. Durch das Eingreifen des sri-lankischen Verfassungsgerichts konnte dies jedoch verhindert werden. 

Bei der Wahl Ende September 2024 wurde Wickremesinghe nun wenig überraschend abgewählt. Mit über 40 Prozent der Erstpräferenzstimmen siegte der linke Kandidat Anura Kumara Dissanayake. Dissanayake, Vorsitzender der marxistisch-kommunistischen Partei Janatha Vimukthi Peramuna (JVP), trat als Spitzenkandidat eines Bündnisses aus 20 weiteren Organisationen an, darunter politische Parteien, Jugend- und Frauengruppen sowie Gewerkschaften. 

Sieg fürs Kapital

Das Wahlbündnis Dissanayakes hatte im Wahlkampf damit geworben, eine Wirtschaftspolitik im Interesse der Einkommensschwachen durchzusetzen sowie das Kreditprogramm mit dem IWF und die Schuldenrestrukturierung neu auszuhandeln. Doch nach weniger als zwei Wochen im Amt ruderte die Regierung Dissanayakes bereits zurück und verkündete, dass sie den Deal mit dem IWF einhalten und keine Neuverhandlungen der Schuldenrestrukturierung anstreben werde. Vielmehr wolle man auch die noch nicht abgeschlossenen Verhandlungen mit den Anleihehaltern so zum Abschluss bringen, wie sie von der Übergangsregierung noch kurz vor ihrem Abdanken eingestielt wurde. Ein klarer Sieg für internationale Anleihehalter, die so auch nach der Restrukturierung Gewinne in Höhe von schätzungsweise 3,6 Milliarden US-Dollar machen. 

Eingeschränkter politischer Handlungsspielraum

Eine spürbare Verbesserung der alltäglichen Lebenssituation zu erreichen, dürfte indes für Dissanayake nun sehr schwierig werden. Denn der hohe Schuldendienst schränkt den politischen Handlungsspielraum stark ein. Diese Einschätzung teilt interessanterweise auch die Friedrich Naumann Stiftung

„Auch wenn Dissanayake aus einem linksgerichtetem Umfeld kommt, der wirtschaftspolitischen Realität muss er sich auch stellen… Die fiskalische Realität wird AKDs [=Anura Kumara Dissanayake] Agenda sofort Grenzen setzen. Sri Lanka steht weiterhin unter der wachsamen Beobachtung internationaler Gläubiger, und jede Abweichung von vereinbarten Wirtschaftspolitiken könnte schwerwiegende Folgen haben.“

Selbstverständlich schränken jedoch nicht unveränderbare wirtschaftspolitische und fiskalische „Realitäten“ die Handlungsfähigkeit Sri Lankas ein. Die Umstände fußen vielmehr auf politischen Entscheidungen, die im Rahmen der Schuldenrestrukturierung klar zugunsten der Gläubiger gefällt wurden. 

Denn wenn die Schuldenrestrukturierung so abgeschlossen wird, wie sie im Rahmen des IWF-Programms von der Übergangsregierung auf den Weg gebracht wurde, muss Sri Lanka in den nächsten Jahren weiterhin rund 26 Prozent seiner Staatseinnahmen für den ausländischen Schuldendienst aufbringen. Damit gehört Sri Lanka in seiner Einkommenskategorie auch nach der Restrukturierung zu den 20 Prozent der Länder, die weltweit am meisten an Schuldendienstzahlungen an ausländische Gläubiger leisten. Zum Vergleich: Im Rahmen der Entschuldungsinitiativen der 1990er Jahre (HIPC) wurden Rückzahlungen auf maximal 15 Prozent der Staatseinnahmen begrenzt, da alles darüber als nicht mehr tragfähig galt. Selbst konservative, IWF-nahe Kreise stimmen zu, dass im Falle Sri Lankas die im IWF-Programm anvisierten Schuldenerleichterungen zu gering ausfallen und die Schuldendienstzahlungen eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung gefährden (siehe unter anderem hier und hier). 

Zusätzlich schränkt das IWF-Programm den fiskalischen Spielraum weiter ein, indem es der Regierung vorschreibt, einen Primärüberschuss in Höhe von 2,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu erzielen. Diese Vorgabe fußt keinesfalls auf einer soliden empirischen Grundlage. Ganz im Gegenteil deutet alles darauf hin, dass diese Vorgabe aus volkswirtschaftlicher Sicht kontraproduktiv ist. 

Diese Austeritätsvorgaben sowie die Kleinrechnung des Erlassbedarfs durch den IWF – und nicht unveränderbare „Realitäten“ – begrenzen Dissanayakes Möglichkeit in Bildung, Soziales und Gesundheit zu investieren. Angesichts dieser offensichtlicher Schwächen im IWF-Programm und der verheerenden sozialen Situation in Sri Lanka – die Armutsrate hat sich gerade das vierte Jahr in Folge verschärft – war die Forderung Dissanayakes, das Programm neu auszuhandeln sehr vernünftig und die Bundesregierung und ihre Partnerstaaten hätten dies unterstützen sollen. 

Gemäßigte Positionen

Dies gilt nicht zuletzt, da Dissanayake – anders als es in internationalen Medien bisweilen kommuniziert und die Parteigeschichte der JVP es nahelegen könnte – keine besonders radikalen, marxistischen Positionen vertritt. Bereits in seinen Wahlkampfreden bekräftigte Dissanayake, dass er die Rückzahlung der IWF-Gelder in jedem Fall sicherstellen werde und betonte, dass ihm an guten Beziehungen zu seinen westlichen und östlichen Partnern gelegen sei. Nicht die Aufkündigung des IWF-Programms, sondern lediglich dessen Neuaushandlung waren im Gespräch. Dissanayake hält sich demnach durchaus an die – primär vom Westen – gesetzten „Spielregeln“ und bemühte sich lediglich darum, innerhalb dieser Rahmenbedingungen ein faireres Ergebnis auszuhandeln. Diese ausgestreckte Hand hätten westliche Regierungen und internationale Finanzinstitutionen ergreifen sollen. 

Gefahr für die Demokratie 

Regierungsverantwortliche in Washington und Berlin – ebenso wie in Beijing und Neu Delhi – tragen somit Mitverantwortung für den eingeschränkten fiskalischen Handlungsspielraum Dissanayakes. Wenn der demokratisch gewählte Präsident dadurch seine Wahlversprechen nicht umsetzen kann, droht seine Zustimmung zu bröckeln. Nun kann es nicht verwundern, dass es im Interesse westlicher Regierungen liegt, die Beliebtheit eines „marxistischen“ Präsidenten zu mindern. Jedoch droht das Vertrauen in die demokratischen Strukturen selbst zu erodieren, wenn die Bürger*innen einmal mehr erleben, dass es keinen Unterschied macht, wem sie ihre Stimme geben. Eine Verschärfung der sozialen Lage verstärkt zudem anti-westliche Stimmungen, da diese – zurecht – den westlich dominierten internationalen Finanzinstitutionen, insbesondere dem IWF, angelastet wird. 

Im Teil II der Blogreihe werfen wir einen genaueren Blick darauf, wie Druck auf Dissanayake ausgeübt wurde, sein Vorhaben aufzugeben und welche Rolle dabei der laufende Klageprozess mit der Hamilton Reserve Bank spielt. 

Colombo Consulations: Manchmal lohnt sich Fliegen doch!

Auf Einladung unserer sri-lankischen Kolleg*innen vom YUKTHI-Kollektiv waren meine Kollegin Kristina Rehbein und im Juni 2024 für eine knappe Woche in Sri Lanka zu Besuch. Für mich war es die erste außer-europäische Reise in meiner Funktion bei erlassjahr.de. Nicht, weil es zuvor keine Anlässe gegeben hätte, sondern weil wir uns bisher bei vielen Gelegenheiten explizit dagegen entschieden hatten, mal eben durch die Welt zu jetten. 

Diesmal fiel unsere Entscheidung anders aus. Dies lag vor allem daran, dass wir mit den Wissenschaftler*innen des YUKTHI-Kollektivs mittlerweile seit fast zwei Jahren – seit Sri Lanka im April 2022 in den Zahlungsausfall geriet – einen sehr engen Austausch gepflegt haben. Ahilan Kadirgamar, einer der Mitinitiator*innen des YUKTHI-Kollektivs, war bereits im Oktober 2023 für eine Rundreise bei uns in Deutschland zu Gast gewesen. Nun waren wir für die Colombo Consulations nach Sri Lanka eingeladen. Auch mit Blick auf die im September anstehenden Präsidentschaftswahlen fand in der Woche vom 8. Juni eine Vielzahl an öffentlichen und nicht-öffentlichen Veranstaltungen statt, um die Diskussion bezüglich möglicher Alternativen zum aktuellen Umschuldungsprozess und zu den IWF-Konditionen zu beleben.

Kristina und ich hatten unsere Kolleg*innen aus Sri Lanka auch im Vorhinein bei den Planungen unterstützt und insbesondere den Kontakt zu und die Anreise von weiteren internationalen Expert*innen im Schuldenthema mitorganisiert. Neben Kristina und mir waren in der Woche vom 8. Juni folgende weitere internationale Gäste vor Ort in Colombo: Martín Guzman, ehemaliger Wirtschaftsminister Argentiniens und aktuell Professor an der Colombia University mit großer Expertise im Schuldenthema; Jayati Ghosh, indische Politökonomin, aktuell Professorin in Massachusetts und ebenfalls eine bekannte Größe in der internationalen Debatte zur Reform der internationalen Schulden- und Finanzarchitektur; Charles Abugre, ghanaischer Direktor der International Development Economics Associates (IDEAs), einem Wissenschaftsnetzwerk progressiver Ökonom*innen insbesondere aus dem Globalen Süden; Charles Chandrasekhar, ebenfalls IDEAs-Mitglied und Wirtschaftsprofessor, der aktuell in Delhi und Bangkok lehrt, sowie Ashim Rashid, Mitglied des Alternate Law Collective in Pakistan und Wissenschaftler an der Universität in Pennsylvania. 

Samstag, 8.6.: Ankunft und „Workers Tribunal“

Nach einem Nachtflug bin ich Samstag früh in Colombo gelandet und wurde von Shafiya Roshan Rabaithu und Yatursha Ulankentheran am Flughafen herzlich empfangen. Shafiya und Yatursha arbeiten beide als Wissenschaftlerinnen im YUKTHI Kollektiv. Am Samstag standen noch keine schuldenbezogenen Veranstaltungen an und ich konnte mir den Tag etwas einteilen. Beim Mittagessen habe ich Chandru Chandrasekhar kennengelernt, den ich bisher nur von Online-Sitzungen kannte. 

Nachmittags habe ich Ahilan zu einem „Workers Tribunal“ in der architektonisch beeindruckenden Bandaraneike Momorial International Conference Hall (BMICH) begleitet. Das BMICH-Kongresszentrum wurde in den 1970er Jahren von China als Geschenk an Sri Lanka errichtet, um an den vierten Premierminister des Landes, Bandaranaike, zu erinnern. Dieser führte Sri Lanka in den 1950er Jahren in die Blockfreie Bewegung und eröffnete diplomatische Beziehungen zu China. Für mich war es interessant, dieses Gebäude und die damit verbundene Geschichte kennenzulernen, da im Westen oft die Auffassung herrscht, dass Chinas jüngste Bemühungen, weltpolitischen Einfluss zu gewinnen, ein völlig neues Phänomen seien. Über das „Workers Tribunal“ und die menschunwürdigen Arbeitsumstände der dort zu Wort kommenden Plantagenarbeiter*innen habe ich hier ausführlich berichtet.

Sonntag, 9.6.: Interner Konsultationsprozess

Am Sonntag fand ein ganztägiger, interner Austausch mit rund 30 Menschen aus Sri Lanka und den aus dem Ausland angereisten Gästen im schönen Galle Face Hotel statt. Trotz des kolonialen Ursprungs des Hotels – an der Bauweise sehr gut erkennbar – ist das Hotel für Veranstaltungen dieser Art bei unseren sri-lankischen Kolleg*innen sehr beliebt und wird von ihnen vor allem gegenüber den neuen großen internationalen Hotelketten für die Unterbringung ausländischer Gäste gern genutzt. Der Fokus lag am Sonntag vor allem darauf, den ausländischen Gästen im Vorfeld der anstehenden öffentlichen Termine ein umfassenderes Bild der aktuellen Lage in Sri Lanka zu vermitteln und Perspektiven auf den aktuell laufenden Umschuldungsprozess auszutauschen. 

Montag, 10.6.: Fernsehinterview & große öffentliche Veranstaltung zu Sri Lankas Schuldenrestrukturierung

Kristina landete am Montagmorgen und wurde von unseren sri-lankischen Kolleginnen vom Flughafen direkt ins Fernsehstudie von NewsFirst geleitet. Dort gab sie gemeinsam mit Jayati Ghosh ein einstündiges Interview, das hier angeschaut werden kann. 

Am Montagnachmittag fand die größte öffentliche Veranstaltung der Woche statt. In einer Paneldiskussion mit dem Titel „Is there another way? Debt restructuring, the IMF and the future of Sri Lanka” diskutierten Martín Guzman, Jayati Ghosh und Charles Abugre über die Probleme des aktuellen Umschuldungsprozesses und über mögliche Alternativen. Mit rund 400 Teilnehmenden – darunter Arbeiter*innen der verschiedenen ethnischen Gruppen Sri Lankas, Parlamentsabgeordnete und der ehemalige Zentralbankchef – wurde die Erwartung unserer sri-lankischen Kolleg*innen weit übertroffen. Auch in den großen Zeitungen sowie in den sozialen Medien wurde viel über die Veranstaltung berichtet, z.B. hier. Kristina und ich haben kleineren Medien am Rande der Veranstaltung Interviews gegeben. 

Dienstag, 11.6.: Interview und Klimaworkshop

Am Dienstagmorgen haben Kristina und ich der sri-lankischen Tageszeitung The Daily Mirror ein Interview gegeben. Nachmittags haben wir einen Workshop zur Verbindung der Schulden- und Klimakrise gegeben, an dem rund 30 Personen teilnahmen, vor allem Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen, die in Sri Lanka zu unterschiedlichen Klima- und Umweltfragen arbeiten. Es kam zu einem sehr anregenden Austausch. Mit Melani, einer der Mitorganisator*innen des Workshops, haben wir unsererseits ein Interview über ihr Engagement vor Ort und die Lage Sri Lankas geführt, das in Kurzfassung hier wiedergegeben wird. 

Mittwoch und Donnerstag, 12.-13.6.: Auswertung und Strategiebesprechung in kleiner Runde

Am Mittwoch und Donnerstag hatten Kristina und ich gemeinsam mit dem Kernteam von YUKTHI Zeit für eine Auswertung der Colombo Consultations und unserer Zusammenarbeit der letzten zwei Jahre. Wir haben die Zeit außerdem genutzt, um uns gegenseitig tiefergehend über unsere aktuellen Arbeitsschwerpunkte zu informieren und strategische Planungen für die nächsten Wochen und Monate anzustellen. Es war sehr deutlich, dass es gerade für einen solchen Austausch sehr viel fruchtbarer ist, gemeinsam in einem Raum zu sitzen, statt sich wie in den letzten zwei Jahren immer nur auf Kacheln am Bildschirm zu sehen. An diesen Tagen haben wir außerdem noch Interviews mit Madhulika, einer jungen Gewerkschaftsaktivistin und Ermiza, einer Menschenrechtsanwältin aufgezeichnet. Das Interview mit Ermiza kann hier im Blog des Netzwerk Entwicklungspolitik Saarbrücken nachgelesen werden, denn Ermiza wird zu unserer großen Freude einen Online-Workshop bei unserer diesjährigen Jahrestagung in Saarbrücken geben. 

Gemeinsam mit Charles und Hashim hat Kristina am Mittwochabend zudem noch an einem Expert Roundtableteilgenommen, der hier nachgehört werden kann. 

Abschied und Rückreise

Donnerstagnachmittag hatten wir noch wenige Stunden freie Zeit und das erste Mal die Möglichkeit, uns die Beine etwas zu vertreten. Nach dem Aufenthalt in den vielen klimatisierten Räumen sind wir bei dem feucht-warmen Wetter draußen schnell ins Schwitzen gekommen. Unsere Gastgeber*innen haben uns außerdem noch in ein Kulturzentrum mitgenommen, in dem auch fair produzierte Kleinigkeiten verkauft wurden. Kristina und ich haben uns dort noch mit einigen Leckereien und kleinen Erinnerungsstücken eingedeckt – mein Schreibtisch im Düsseldorfer Büro wird seitdem durch einen Stifte- und Post-it Halter aus Sri Lanka verschönert. Abends waren wir ebenfalls mit dem Kernteam von YUKTHI etwas außerhalb – und erstmals am Strand – zum Abschied etwas essen, bevor es Donnerstagnacht mit dem Flieger zurück nach Deutschland ging. 

Unsere Kolleg*innen in Sri Lanka bewerten die Colombo Consultations als großen Erfolg. Die Vielzahl der Veranstaltungen in dieser Woche hat die Debatte über den Sinn und Unsinn des aktuellen IWF-Programms neu entfacht und vor allem konkrete Alternativszenarien in den Fokus gerückt. Für die Menschen in Sri Lanka – einem Land, das erstmals in seiner Geschichte Umschuldungsverhandlungen führt – ist es äußerst wertvoll, auf die Erfahrungen anderer Länder in ähnlichen Situationen zurückgreifen zu können. Dadurch wird deutlich, dass die Lage in Sri Lanka kein Einzelfall ist und dass weltweit Menschen daran arbeiten, Schuldenkrisen fairer und nachhaltiger zu überwinden. Es bleibt zu hoffen, dass die gewonnenen Erkenntnisse aus den Colombo Consultations den Weg für eine gerechtere Zukunft für Sri Lanka ebnen.

Workers Tribunal: Menschenunwürdige Arbeitsbedingungen auf den Tee- und Kautschukplantagen in Sri Lanka

Am ersten Tag meiner diesjährigen Reise nach Colombo, über die ich ausführlich hier berichtet habe, standen noch keine schuldenpolitischen Veranstaltungen an. Daher konnte ich mir den Tag frei einteilen und habe am ersten Nachmittag unseren sri-lankischen Kollegen Ahilan Kadirgamar zu einem „Workers Tribunal“ in der architektonisch beeindruckenden Bandaraneike Momorial International Conference Hall begleitet. 

Der zweitägige Prozess wurde von der Red Flag Gewerkschaft organisiert, die vor allem Plantagenarbeiter*innen vertritt. Bei dem Prozess handelte es sich nicht um einen ordentlichen Gerichtsprozess. Wie wir im Laufe der Woche noch von mehreren Jurist*innen hörten, ist es äußerst schwierig, wirtschaftliche und soziale Rechte im sri-lankischen Rechtssystem erfolgreich einzuklagen. Bei dem sogenannten „Tribunal“ machten Arbeiter*innen von Tee- und Kautschukplantagen in einem medial begleiteten Prozess Aussage vor drei ehemaligen (Verfassungs-)Richter*innen aus Sri Lanka, Indien und Nepal. Am zweiten Tag sprachen die Richter*innen einen – rechtlich nicht bindenden – Urteilsspruch. Der Prozess sollte dadurch vor allem Aufmerksamkeit für die Arbeits- und Lebensumstände der Plantagenarbeiter*innen erzeugen.  

Die Arbeiter*innen, die im Prozess aussagten, gehören der ethnischen Minderheit der Tamilen an, deren Vorfahren während der britischen Kolonialzeit aus Südindien nach Sri Lanka gebracht wurden, um auf den Kaffee-, Tee- und Kautschukplantagen der Brit*innen zu arbeiten. Die meisten Arbeiter*innen arbeiten – und leben – demnach seit Generationen auf den Plantagen und viele sprachen davon, dass sie ihre Situation als Versklavung unter neuen Vorzeichen wahrnehmen. Die Arbeiter*innen berichteten, dass auf den Plantagen grundlegende sanitäre Einrichtungen nicht zur Verfügung stehen und dass der Tagesmindestlohn von aktuell 1.000 sri-lankischen Rupien (umgerechnet ca. 3 Euro) systematisch nicht eingehalten wird – unter anderen, weil die Arbeitgeber*innen nicht erfüllbare Vorgaben bezüglich der zu pflückenden Mengen machen. Infolge der gestiegenen Lebenshaltungskosten können die Familien der Plantagenarbeiter*innen nur noch selten drei Mahlzeiten täglich zu sich nehmen.

Tatsächlich sind nach meiner eigenen Erfahrung die Lebenshaltungskosten für einen Lebensstil wie ich ihn in Deutschland führe zumindest in der sri-lankischen Hauptstadt Colombo mit den Kosten in Deutschland durchaus vergleichbar: Für unser nicht gerade übertrieben schickes Hotel zahlten wir rund 80 Euro die Nacht, Bananen waren gerade in einem normalen Supermarkt für 70 Cent/kg im Angebot, für eine 3-Zimmer-Wohnung, die qualitativ mit meiner Wohnung vergleichbar ist, zahlte eine Bekannte deutlich mehr Miete als ich in Düsseldorf. Zwar sind die Lebenshaltungskosten auf dem Land vermutlich deutlich geringer, trotzdem ist es unvorstellbar, wie man mit einem realen Lohn von umgerechnet weniger als 3 Euro am Tag das eigene Leben und das Überleben der eigenen Familie gewährleisten soll – geschweige denn ein Leben in Würde führen kann. Faktisch ist dies auch schlicht nicht möglich: Wissenschaftler*innen in Sri Lanka sprechen davon, dass es einen Tagesmindestlohn von mindestens 2.300 sri-lankischen Rupien – rund 7 Euro – bräuchte, um die alltäglichen Ausgaben einer vierköpfigen Familie zu stemmen. 

Ich konnte am zweiten Tag des Prozesses verfolgen, wie die Richter*innen ihren Urteilsspruch verkündeten. Sie sprachen davon, dass sie entsetzt über die menschenunwürdigen Arbeits- und Lebensumstände der Plantagenarbeiter*innen seien und forderten, dass alle Verantwortlichen – insbesondere die Regierung – unverzüglich alle zur Verfügung stehenden Maßnahmen ergreifen müssen, um einen Tagesmindestlohn von mindestens 1.700 Rupie praktisch (!) umzusetzen und unlautere Praktiken der Plantagenunternehmen wie die willkürliche Erhöhung der Tagesziele strikt zu unterbinden seien. Meera, Auslandskorrespondentin der indischen Tageszeitung The Hindu, bei der wir später in der Woche noch zum Abendessen eingeladen waren, hat hier ausführlich über den Prozess berichtet. 

Mir führte der Prozess einmal mehr vor Augen, wie koloniale Kontinuitäten das Leben von Menschen ganz praktisch bestimmen und auf wessen Kosten Schuldenkrisen aktuell ausgetragen werden: Nämlich auf Kosten der vulnerabelsten Bevölkerungsschichten, die am stärksten unter der aktuellen Inflation in Sri Lanka leiden und deren Lohn aufgrund des Drucks der für den Weltmarkt produzierenden Unternehmen trotzdem nicht angehoben wird. Schlimmer noch: Um Verluste für ausländische Gläubiger zu minimieren wurde in Sri Lanka auf Druck ausländischer Akteure eine Inlandsumschuldung durchgeführt. Im Klartext bedeutet das, dass eben diese Plantagenarbeiter*innen noch um ihre magere Rentenersparnisse gebracht werden, wie Ahilan hier berichtet hat. 

Zwielichtige Personen im Rechtsstreit zwischen Sri Lanka und der Hamilton Reserve Bank

Seit Juni 2022 läuft ein Klageprozess zwischen der sri-lankischen Regierung und der Hamilton Reserve Bank, der zuletzt pausiert hatte . Nachdem das vom Gericht zugestandene Moratorium Ende Februar 2024 auslief, hat Sri Lanka erneut die Aussetzung des Prozesses für weitere fünf Monate beantragt. Unterstützung erfährt dieser Antrag wieder von den Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs und neuerdings auch von Kanada, Japan, Niederlande und Spanien. Ein Urteil des Gerichts, ob dem Antrag von Sri Lanka stattgegeben wird steht aktuell noch aus. Nun sind neue zwielichtige Akteure auf der Bildfläche erschienen.

Jesse Guzman: Ein zwielichtiger Investor taucht auf

Bisher wurde der Streit vor Gericht zwischen zwei Parteien, Sri Lanka auf der einen und der Hamilton Reserve Bankauf der anderen Seite ausgetragen. Ende Februar 2024 mischte sich jedoch eine dritte Partei ein: Der US-amerikanische Investor Jesse Guzman hatte Ende 2021 nach eigenen Angaben 50 Millionen US-Dollar bei der Hamilton Reserve Bank angelegt und fordert seit Mai 2022 die Rückzahlung von etwas über der Hälfte dieser Anlage von der Bank. 

Guzman (weder verwandt noch verschwägert mit dem ehemaligen argentinischen Wirtschaftsminister Martín Guzmán) ist 100-prozentiger Eigentümer und Manager des in Texas registrierten Bauunternehmens Ultimate Concrete LLC. sowie des in Belize registrierten Finanzunternehmens Intercoastal Finance Ltd. – und ein Mann mit durchaus zwielichtigem Geschäftsgebaren: Sein Bauunternehmen war unter anderem am Bau der Mauer zwischen Mexiko und den USA, dem Prestigeprojekt Donald Trumps, beteiligt. In diesem Kontext wurde das Unternehmen auch dafür angeklagt, überhöhte Baukosten zu veranschlagen und bei der Einschleusung illegal bewaffneter mexikanischer Sicherheitsteams in die USA zur Bewachung von Baustellen beteiligt zu sein. Bekannt wurde dies durch die Aussagen zweier ehemaliger Angestellter bei Ultimate Concrete LLC., die Guzman daraufhin laut Medienberichten öffentlich als „faule Ärsche“ und „Parasiten“ beschimpfte.

Anschuldigung: „Hamilton hat Geld gestohlen“

In seinem Schreiben an das Gericht argumentieren die Anwälte Guzmans nun, dass Guzman der eigentliche Eigentümer („beneficial holder“) der Anleihen sei und dass seine Interessen durch die Hamilton Reserve Bank vor Gericht nicht angemessen vertreten würden. Guzman nimmt an, dass das von ihm angelegte Geld gegen sein Wissen von der Hamilton Reserve Bank verwendet wurde, um die Anleihen Sri Lankas zu erwerben, und die Bank die Rückzahlung nun verweigert, da ihr dies aufgrund der Zahlungseinstellung Sri Lankas nicht möglich sei. Er beschuldigt die Bank ausdrücklich sein Geld „gestohlen“ und „veruntreut“ zu haben. 

Die Hamilton Reserve Bank verweist demgegenüber auf nicht eingehaltene Formalia auf Seiten Guzmans, die es ihr verbieten würden, das Geld zurückzuzahlen. Vor Gericht bekräftigt sie, dass es sich um zwei unabhängige Streitfälle handele und sie selbst der rechtmäßige Eigentümer der sri-lankischen Anleihen sei. Zudem verweist sie darauf, dass Guzman das Geschäft mit der Hamilton Reserve Bank nicht als US-amerikanische Privatperson eingegangen sei, sondern als Direktor des in Belize registrierten Finanzunternehmens Intercoastal Finance Ltd. Letztlich beruft sie sich darauf, dass in den Verträgen zwischen der Hamilton Reserve Bank und der Intercoastal Finance Ltd. vereinbart sei, dass eventuelle Streitigkeiten in St. Kitts und Nevis zu klären seien, wo die Hamilton Reserve Bank ihren Sitz hat, und schlussfolgert daher, dass es keinen Grund für das US-amerikanische Gericht gebe, die Intervention von Guzman in diesem Klagefall zu berücksichtigen.

“There is no U.S. interest in resolving a dispute between a Belize-based company and a Nevis bank.” 

Dokument 92 im Rechtsstreit zwischen der Hamilton Reserve Bank und Sri Lanka

Das Anwaltsteam von Guzman hat eine Anhörung vor Gericht in der Sache beantragt. Eine Entscheidung des Gerichts steht noch aus. 

Einer zweifelhafter als der andere

Lange bestand Unklarheit darüber, in wessen Interesse die Hamilton Reserve Bank ihre Klage vorbringt. Dies wurde schon früh im Prozess von Sri Lanka vorgebracht und darauf hat sich auch Jesse Guzman bezogen. Nun verdichten sich die Hinweise jedoch, dass letztlich ein gewisser Benjamin Wey hinter der Hamilton Reserve Bank und der vorgebrachten Klage steht. So argumentiert zumindest das Anwaltsteam von Sri Lanka, das sich diesbezüglich auch auf die Recherchen der New York Times bezieht, die bereits im September 2023 hier veröffentlich wurden. 

Bei Wey handelt es sich um eine mindestens so zwielichtige Person wie bei Jesse Guzman. 2015 wurde Wey, ebenfalls US-Amerikaner, wegen illegaler Finanzgeschäfte angeklagt und beschuldigt, von nicht offen gelegten Eigentumsbeteiligungen an mehreren US-amerikanischen Unternehmen zu profitieren. Zudem wurde er zur Schadensersatzzahlung in Millionenhöhe an eine ehemalige Praktikantin verurteilt, die er sexuell belästigt hatte. 2016 wurde in diesem Zusammenhang außerdem eine Verleumdungsklage gegen Wey vorgebracht, da in einem Online-Medienblog – offenbar ebenfalls von Wey verantwortetet – über die ehemalige Praktikantin sowie über Journalist*innen, die kritisch über Wey berichtet hatten, hergezogen wurde.

Zum Klagen geworben 

Mit Blick auf die Verstrickung von Wey in den Klageprozess gegen Sri Lanka liegen der New York Times zwei interessante Quellen vor. Erstens hat Wey nach Ankündigung der Zahlungseinstellung im April 2022 ein direktes Schreiben an, Gotabaya Rajapaksa, den damaligen Präsidenten Sri Lankas verschickt. Darin warnte er vor den schlimmen Folgen einer solchen Zahlungseinstellung und stellte für den Fall, dass Sri Lanka sich anders entscheiden sollte, weitere Investitionen unter anderem in der sri-lankischen Finanzindustrie in Aussicht. Das Schreiben ist von Wey als stellvertretendem Vorsitzenden der Fintech Holding Ltd. unterzeichnet, von der die Hamilton Reserve Bankeine 100-prozentige Tochtergesellschaft ist. 

Zweitens hat Wey bei anderen Gläubigern Sri Lankas dafür geworben, gemeinsam eine Klage gegen das Land vorzubringen, bevor die Hamilton Reserve Bank schließlich allein den Klageweg beschritten hat. In einer Präsentation, die ebenfalls der New York Times vorliegt, argumentierte Wey gegenüber anderen Gläubigern: 

„suing a sovereign for non-debt payment can be a justified and lucrative business”

Dokument 86 im Rechtsstreit zwischen der Hamilton Reserve Bank und Sri Lanka

Außerdem war sich Wey sicher, dass er durch eine Klage und die Weigerung, sich an einer Restrukturierung zu beteiligen, Druck auf Sri Lanka ausüben könne:

„Fintech Holdings can block IMF payments to Sri Lanka until it is paid off.“

Ebenda.

Der Präsentation ist auch zu entnehmen, dass Wey und Ajith Cabraal, der ehemalige Zentralbankchef Sri Lankas, im direkten Kontakt zueinanderstanden. 

Und wie geht’s weiter?

Der eigentliche Prozess zwischen Sri Lanka und der Hamilton Reserve Bank ist mittlerweile vorangeschritten. Ende Februar 2024 ist das vorübergehende Moratorium, das vom Gericht im November 2023 zugestanden wurde, ausgelaufen. Sri Lanka hat daraufhin am 1. März 2024 erneut die vorübergehende Aussetzung des Prozesses für weitere fünf Monate beantragt. In der Argumentation vor Gericht verweist das Anwaltsteam von Sri Lanka darauf, dass die Verhandlungen mit den Gläubigern gut voranschreiten würden, dass Sri Lanka die im IWF-Programm vereinbarten Maßnahmen gewissenhaft umsetze und eine Einigung mit der Gläubigermehrheit bis Ende Juni 2024, spätestens jedoch im Juli 2024 wahrscheinlich sei. 

Sri Lanka wird wie bereits im Spätsommer 2023 in seinem Gesuch auf vorübergehende Aussetzung des Prozesses von öffentlichen Gläubigerstaaten unterstützt. So haben sich erneut die US-Regierung und das Sekretariat des Pariser Clubs in zwei Stellungnahmen mit der Bitte an das Gericht gewandt, dem Antrag Sri Lankas stattzugeben. Im September 2023 hatte das Sekretariat des Pariser Clubs dies noch im Namen Großbritanniens und Frankreichs getan. In dem Schreiben vom Februar 2024 vertritt der Pariser Club darüber hinaus nun auch die Interessen von Kanada, Japan, den Niederlanden und Spanien. Sowohl die US-Regierung als auch das Sekretariat des Pariser Clubs wiederholen ihre Bedenken und Argumente aus dem Spätsommer 2023, die wir hier wiedergegeben haben. Zudem bekräftigen sie, dass Sri Lanka in guter Absicht („good faith“) mit seinen öffentlichen und privaten Gläubigern verhandele. 

Hamilton verweist hingegen darauf, dass kein nennenswerter Fortschritt in den Verhandlungen zwischen dem Inselstaat und seinen privaten Gläubigern festzustellen sei, und hat eine Anhörung bezüglich des Streits über die vorübergehende Aussetzung beim Gericht beantragt. Ein Urteil des Gerichts, ob eine Anhörung angesetzt und/oder dem Antrag auf eine erneute Aussetzung stattgegeben wird, steht aktuell noch aus. 

Lehren:

Eins beweist der Fall beispielhaft: Hunderte Seiten Gerichtsdokumente durchzusehen ist nicht immer eine dröge Tätigkeit. Mir kam es bisweilen fast so vor, als würde ich einen aufregenden Krimi lesen, und die Absurdität der Gestalten kann einen dabei manchmal fast zum Schmunzeln bringen. Fast. Wäre es nicht gleichzeitig auf der anderen Seite so bitterernst und würde dieses skrupellose Vorgehen Weniger nicht auf Kosten so Vieler geschehen. Aus meiner Sicht müssen daher auch folgende ernsthafte Schlüsse aus dem aktuellen Stand des Prozesses gezogen werden: 

  1. Das wiederholte Eingreifen von nunmehr sieben Staaten zeigt, dass sie ernsthaft befürchten, dass ein solcher Klagefall koordinierte Restrukturierungsverhandlungen erheblich erschweren kann. Statt eines solchen einzelfallbezogenen Eingreifens wäre es aber wünschenswerter – und würde sowohl für Schuldnerstaaten als auch für private Gläubiger zu mehr Rechtssicherheit führen – wenn endlich nationale Gesetze verabschiedet würden, die es privaten Gläubigern unmöglich machen, internationale Restrukturierungen auf dem Rechtsweg zu unterlaufen.
  2. Es deutet alles darauf hin, dass in diesem Fall einmal mehr nicht etwa Kleinanleger und Rentenfonds, sondern Superreiche mit fragwürdigem Verhältnis zum Recht die Profiteure einer solchen Klage werden könnten. 
  3. Es ist komplett inakzeptabel, dass solche Akteure in irgendeiner Weise durch öffentliche Gelder subventioniert werden. In diesem Sinne ist es zu begrüßen, dass Benjamin Wey sich offenbar geirrt und sich der IWF in diesem Fall nicht als Erfüllungsgehilfe der Hamilton Reserve Bank entpuppt hat. 
  4. Ebenso inakzeptabel ist es jedoch ebenfalls, dass knappe öffentliche Ressourcen durch diesen Fall gebunden werden. Die sri-lankische Regierung hat zweifelsohne gerade wichtigeres zu tun als sich mit einem solchen Rechtsprozess herumzuschlagen und zur eigenen Verteidigung seit nunmehr bald zwei Jahren ein dreiköpfiges Team der Anwaltskanzler Clifford Chance zu bezahlen. Und jede Stunde, die Beamte in Washington, Paris, London, Madrid, Ottawa, Amsterdam und Tokyo darauf verwenden müssen, die Klageunterlagen zu sichten und Briefe an das Gericht zu formulieren, ist eine Stunde zu viel. Das gilt übrigens auch für die Zeit, die Beamte in Berlin dafür verwendet haben mögen, sich der Stellungnahme des Pariser Clubs aus unerklärlichen Gründen nicht anzuschließen. Diese Verschwendung öffentlicher Ressourcen könnte durch die Verabschiedung eines nationalen Gesetzes, durch das solche Klagestrategien wie die von Hamilton von vorherein unterbunden werden, effektiv verhindert werden. 
  5. Das dreiste und gut zu skandalisierende Auftreten von Akteuren wie Guzman und Wey sollte nicht über die eigentlichen strukturellen Probleme hinwegtäuschen. In gewisser Weise wirkt das Auftreten der beiden Akteure gar dilettantisch. Ganz so offensichtlich ist die Klaviatur der Macht dann doch nicht (immer) zu bespielen und sind öffentliche Akteure wie der IWF nicht für die eigenen Interessen einzuspannen. Erfolg hat, wer subtiler vorgeht. Dies zeigt sich beispielsweise im Fall Surinames, wo private Gläubiger es einmal mehr geschafft haben, bevorteilt behandelt zu werden und den ursprünglich vom IWF berechneten Erlass deutlich zu drücken. Der Großteil der privaten Gläubiger weiß: Solange eine Regierung auf dem Verhandlungsweg mitspielt und bereit ist, die Interessen der eigenen Bevölkerung dem Interesse der ausländischen Gläubiger weitestgehend unterzuordnen (was im Falle Sri Lankas fraglos der Fall ist), lohnt es nicht, den risikobehafteten und offen konfrontativen Klageweg zu beschreiten. Bei der Verabschiedung nationaler Gesetze muss dies berücksichtigt werden. Daher reicht es nicht, ausschließlich besonders aggressiven „Geierfonds“ wie der Hamilton Reserve Bank das Handwerk zu legen oder die rechtliche Absicherung von internationalen Restrukturierungen immer von der Zustimmung der Mehrheit der privaten Gläubiger abhängig zu machen. Wie nationale Gesetze stattdessen ausgestaltet werden sollten, haben wir hier ausbuchstabiert.
  6. Und letztlich führt der Prozess auch vor Augen, wie die unterschiedlichen Mächte, die im Falle einer Schuldenkrise die umfassende Eintreibung der Gläubigerforderungen sicherstellen, ineinandergreifen: So verweisen sowohl die sri-lankische Regierung als auch die westlichen Staaten in ihren Stellungsnahmen mehrfach darauf, wie gewissenhaft die sri-lankische Regierung die Auflagen des IWF-Programms im eigenen Land umsetze. Auch wurde von Seiten der USA wiederholt auf die strategische Rolle verwiesen, die Sri Lanka bezüglich der eigenen geopolitischen Interessen in der Region einnehme. Im Urteilsspruch des Gerichts von November 2023, in dem eine vorübergehende Pausierung des Prozesses angeordnet wurde, zeigt sich, dass diese Einreden Erfolg hatten. Im Umkehrschluss ist jedoch auch davon auszugehen, dass ein solcher Klageprozess für Regierungen, die konfrontativer gegenüber den vom IWF geforderten Maßnahmen auftreten, zu empfindlicheren Kosten führen dürfte – denn dann fehlen ihnen die mächtigen Verbündeten. Das Gleiche gilt, wenn das Interesse an der Stabilität eines Landes nicht mit dem geopolitischen Interesse der USA oder anderer mächtiger Staaten zusammenfällt. Das ist alles nicht neu, wird an diesem Prozess aber deutlich und sollte beispielsweise bei der Ausgestaltung eines nationalen Anti-Holdout-Gesetzes berücksichtigt werden. 

Nachtrag 23.04.2024: Das Gericht hat die Einrede von Jesse Guzman als unbegründet zurückgewiesen und den Antrag von Sri Lanka auf eine vorübergehende Aussetzung stattgegeben. Das Verfahren ist demnach bis zum 1. August 2024 pausiert.

Quellen

  • Houck, R. G. (01.03.2024) „Memorandum of Law in Support of Defendant’s Motion for a Further Stay of Proceedings“. Dokument 86 im Fall 1:22-cv-5199 DLC (Hamilton Reserve Bank Ltd. v. The Democratic Republic of Sri Lanka).
  • Bleichmar, J. (15.03.2024): „Plaintiff’s Memorandum of Law in Opposition to Motion to Intervene“. Dokument 92 im Fall 1:22-cv-5199 DLC (Hamilton Reserve Bank Ltd. v. The Democratic Republic of Sri Lanka).
  • Angaben des restlichen Artikels beruhen auf den Gerichtsdokumenten 79-99 im Fall 1:22-cv-5199 DLC (HAmilton Reserve Bank Ltd. v. The Democratic Republic of Sri Lanka).

Alle Gerichtsdokumente sind nach Anmeldung hier einsehbar: https://pacer.uscourts.gov

Weitere Informationen

The Winner Takes All – Thrice!?: Sri Lankas Restrukturierung mit privaten Gläubigern  

Nachdem Sri Lanka im Frühjahr 2022 seine Zahlungen eingestellt hatte, trat das Land mit seinen Gläubigern in Umschuldungsverhandlungen ein. Der Großteil der privaten Gläubiger Sri Lankas schloss sich daraufhin in einem Gläubigerkomitee zusammen und legte Sri Lanka im Oktober 2023 einen Vorschlag zur Restrukturierung vor. Im Rechtsstreit mit der Hamilton Reserve Bank verweist Sri Lanka vor Gericht nun darauf, dass es diesen Vorschlag nicht habe annehmen können, da dieser nicht mit den Vereinbarungen mit seinen öffentlichen Gläubigern vereinbar gewesen sei. Außerdem habe Sri Lanka ernsthafte Bedenken bezüglich der Ausgestaltung der von den privaten Gläubigern geforderten sogenannten „macro linked bonds“. Zugleich betont Sri Lanka jedoch, offen für die Aufnahme solcher Klauseln zu sein, sofern diese angemessen ausgestaltet würden. Im Februar 2024 hat Sri Lanka dem privaten Gläubigerkomitee diesbezüglich einen Vorschlag unterbreitet, dessen Details jedoch nicht öffentlich bekannt sind. 

Umgang mit Unsicherheit

Bei „macro linked bonds“ handelt es sich um Klauseln, durch die die Staaten automatisch mehr Rückzahlungen an die Gläubiger leisten müssen, wenn bestimmte ökonomische Auslöser eintreten, sich also etwa die Wirtschaft des Schuldnerlandes besser entwickelt als zum Zeitpunkt der Verhandlung zunächst angenommen wurde. Die Höhe der Rückzahlung wird also von der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes abhängig gemacht, welche naturgemäß vorab schwer einzuschätzen ist. Auch erlassjahr.de und andere sprechen sich explizit dafür aus, in Umschuldungsverhandlungen Zins- und Tilgungszahlungen von der zukünftigen realen Entwicklung des Schuldnerlandes abhängig zu machen (siehe dazu auch „Ausreichend umfassende Schuldenerlasse für eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung ermöglichen!“ im Rahmen unserer Kampagne Mit Schulden Fair Verfahren). Unser Anliegen ist dabei jedoch ein ganz anderes: Wir fordern, dass Rückzahlungen automatisch nach untenangepasst werden müssen, sofern sich die Wirtschaft eines Landes weniger gut entwickeln sollte als angenommen. Schließlich ist dieses Szenario leider auch der Regelfall: In der Vergangenheit wurde die wirtschaftliche Entwicklung im Kontext von Restrukturierungen systematisch zu optimistisch eingeschätzt und so die Rückzahlungsfähigkeit der Schuldnerländer im Interesse der Gläubiger schöngerechnet

Neues Muster in Umschuldungsverhandlungen

Eine solche automatische Anpassung der Schuldendienstverpflichtungen nach unten wurde bisher allerdings noch in keiner Restrukturierung aufgenommen. Die Aufnahme der Klauseln zugunsten der Gläubiger kristallisiert sich indes als neues Muster heraus, um einen Anreiz für private Gläubiger zu schaffen, sich an Schuldenrestrukturierungen zu beteiligen. Dabei profitieren private Gläubiger bereits jetzt schon doppelt: erstens durch hohe Zinssätze bei der Kreditvergabe selbst, zweitens durch eine bevorteilte Bedienung im Falle von Restrukturierungsverhandlungen. Mit dem Slogan „The Winner Takes All – Twice“ wurde das hier treffend auf den Punkt gebracht. Mit Blick auf die Aufnahme der neuen macro linked-Klauseln gilt nun sogar: „The Winner Takes All – Thrice!“

Es ist Zeit, diesem Gebaren der Privatgläubiger durch gesetzliche Regelungen Einhalt zu gebieten!

Weitere Informationen:

Sri Lanka: Vorübergehende Aussetzung im Rechtsstreit mit der Hamilton Reserve Bank 

Am 1. November hat das zuständige New Yorker Gericht dem Antrag von Sri Lanka stattgegeben und eine Aussetzung des Gerichtsprozesses bis Ende Februar 2024 angeordnet. Das erleichtert aktuelle Restrukturierungsverhandlungen. Ausreichend Rechtssicherheit für Sri Lanka und andere Schuldnerstaaten wird dadurch jedoch nicht geschaffen. 

Vorgeschichte

Spätestens mit Ausbruch der Corona-Pandemie 2020 galt Sri Lanka unter Finanzfachleuten als sicherer Kandidat für die nächste Staatspleite. Zu diesem Zeitpunkt begann die Hamilton Reserve Bank, Anleihen von Sri Lanka für einen stark abgewerteten Preis auf den internationalen Kapitalmärkten aufzukaufen. Durch die Verteuerung der Energie- und Lebensmittelpreise infolge des Kriegs in der Ukraine verschärfte sich die finanzielle Situation Sri Lankas weiter. Im April 2022 musste das Land die Rückzahlungen an seine ausländischen Gläubiger einstellen und Schuldenrestrukturierungen einleiten. 

Die Hamilton Reserve Bank legte jedoch vor einem New Yorker Gericht Klage ein und forderte die vollständige und sofortige Rückzahlung aller Zins- und Tilgungszahlungen. An den Verhandlungen zwischen Sri Lanka und seinen Gläubigern wollte sich die Bank von Anfang an nicht beteiligen. Sri Lanka hatte zunächst im November 2022 auf Abweisung der Klage plädiert, da die Hamilton Reserve Bank die Forderungen nicht im eigenen Namen halte. Das Gericht befand jedoch, dass Hamilton klageberechtigt sei, da die Bank eine Klagevollmacht vom eingetragenen Halter der Anleihen erhalten hatte. Bereits in dieser Urteilssprechung wies das Gericht jedoch auf ernsthafte politische Bedenken hin, die sich daraus ergeben, wenn einzelne Gläubiger versuchen, Schuldenrestrukturierungen über den Klageweg zu unterlaufen. 

Frankreich, Großbritannien und die USA mischen sich ein 

Im Juli 2023 beantragte Sri Lanka schließlich die vorübergehende Aussetzung des Prozesses für sechs Monate. Die Bank hingegen beantragte ein Urteil im Schnellverfahren. Im September wandten sich Frankreich und Großbritannien in einer gemeinsamen Stellungnahme an das New Yorker Gericht, die USA legten im Oktober nach. Alle drei Staaten sprachen sich dafür aus, dem Antrag von Sri Lanka auf eine vorübergehende Aussetzung des Prozesses stattzugeben. Sie führten die Sorge an, dass ein Urteil zugunsten Hamiltons den Restrukturierungsprozess ernsthaft gefährden und andere private Gläubiger dazu verleiten könne, ebenfalls den Klageweg zu beschreiten („rush to the courthouse“). In der Stellungnahme der USA heißt es etwa: 

„Die Verweigerung eines Zahlungsaufschubs, gefolgt von einem Urteil gegen Sri Lanka, bevor die Restrukturierungsverhandlungen weiter vorankommen, könnte diese Verhandlungen erschweren und möglicherweise zu deren Scheitern führen. Ein solches Urteil könnte zudem andere private Gläubiger dazu ermutigen, sich wie die Hamilton Bank „vorzudrängeln“ (…). Dies könnte erhebliche Folgen haben, sowohl für die Bemühungen Sri Lankas um wirtschaftliche und humanitäre Verbesserungen in der derzeitigen Wirtschaftskrise als auch ganz allgemein für die Möglichkeit in künftigen Schuldenrestrukturierungen eine breite, einvernehmliche Beteiligung zu erreichen.“

Zudem führen die USA ihr geopolitisches Interesse im indopazifischen Raum an: 

„Die Vereinigten Staaten betrachten Sri Lanka als einen Partner im indopazifischen Raum (…). Der rechtzeitige Abschluss des IWF-Programms wird dazu beitragen, einen starken und dauerhaften wirtschaftlichen Aufschwung zu fördern und dadurch die Stabilität und Sicherheit des Landes zu erhöhen und die Indo-Pazifik-Strategie der US-Regierung voranzutreiben.“

Gericht stimmt Aussetzungsantrag zu 

Am 1. November hat das zuständige New Yorker Gericht dem Antrag von Sri Lanka nun stattgegeben und eine Aussetzung des Gerichtsprozesses bis Ende Februar 2024 angeordnet. Als Begründung führt das New Yorker Gericht folgende fünf Aspekte an: 

  1. Abwägung der Interessen des Klägers: Der Schaden durch eine vorübergehende Aussetzung des Gerichtsprozesses für Hamilton wird vom Gericht als zumutbar gewertet. Erstens handele es sich nicht um eine unbegrenzte Aussetzung, sondern lediglich um eine Aussetzung von 6 Monaten. Zweitens könne Sri Lanka nachträglich verpflichtet werden, Zinsen für den Zeitraum der Zahlungsaussetzung zu zahlen, sofern Hamilton in einem späteren Urteil mit seiner Klage Erfolg habe.
  2. Abwägung der Interessen des Angeklagten: Die zu erwartenden Kosten für Sri Lanka bei einem raschen Rechtsspruch für Hamilton seien hingegen erheblich. Das Gericht erwartet, dass ein Urteil zugunsten von Hamilton die komplexen Verhandlungen und damit die erfolgreiche wirtschaftliche Erholung Sri Lankas entscheidend gefährden würde. Diesbezüglich bezieht sich das Gericht auch auf die Stellungnahmen von Frankreich, Großbritannien und den USA.
  3. Abwägung der Interessen des Gerichts: Grundsätzlich liege es im wirtschaftlichen Interesse des Gerichts, schnell zu einem Urteil zu kommen. Im vorliegenden Fall werde dieses Interesse aber dadurch überschattet, dass das Gericht mit einem „Ansturm auf das Gericht“ rechnen müsse, wenn Hamilton mit seiner Klage erfolgreich sei, bevor die Restrukturierungsverhandlungen abgeschlossen seien.
  4. Abwägung der Interessen anderer Akteure, die mittelbar von dem Prozess betroffen sind: Das Gericht sieht vor allem die Interessen übriger bilateraler öffentlicher und privater Gläubiger beeinträchtigt, da ein frühes Urteil zugunsten Hamiltons den Restrukturierungsprozess entscheidend erschweren könne. 
  5. Abwägung des öffentlichen Interesses: Eine Aussetzung sei auch im öffentlichen Interesse der USA. Auch hier bezieht sich das Gericht in seiner Anordnung auf die eingereichte Interessensbekundung der USA. 

Ende gut, alles gut? 

Zunächst verhindert die Aussetzung des Prozesses, dass ein Urteil zugunsten der Hamilton Reserve Bank die aktuellen Restrukturierungsverhandlungen zusätzlich erschwert. Allerdings macht der Prozess auch deutlich, wie problematisch Klagen für den raschen Abschluss von Schuldenrestrukturierungen und die Wiederherstellung von Schuldentragfähigkeit sind. Sowohl die USA, Frankreich und Großbritannien als auch das New Yorker Gericht haben auf diese Gefahr in ihren Stellungsnahmen und Anordnungen wiederholt hingewiesen. Dass das New Yorker Gericht dem Antrag von Sri Lanka stattgegeben hat, dürfte auch dadurch beeinflusst worden sein, dass sich die drei westlichen Staaten in den Prozess eingemischt haben. Dies ist wiederum nicht zuletzt auf die eigenen (geopolitischen) Interessen dieser Staaten zurückzuführen. Mit Rechtssicherheit hat das wenig zu tun.  

Zudem wird in der aktuellen Anordnung des New Yorker Gerichts explizit die Möglichkeit genannt, dass Hamilton der Klageweg ab März 2024 wieder offenstehe und dann auch die Verzugszinsen für den Zeitraum der Zahlungsaussetzungen mit eingeklagt werden können. Einerseits ist noch nicht klar, ob Sri Lanka die Schuldenrestrukturierungen bis dahin tatsächlich finalisiert haben wird. Andererseits zeigt die Erfahrung aus vergangenen Klageprozessen, dass anhängige Klagen die wirtschaftliche Erholung des Schuldnerstaates auch nach Abschluss einer Vereinbarung mit dem Großteil seiner Gläubiger empfindlich erschweren können. So war es Schuldnerstaaten zum Beispiel in der Vergangenheit häufig nicht möglich, neue Anleihen zu platzieren, solange einzelne Klagen noch anhängig waren (siehe hier ab S. 6). Insgesamt wird deutlich, dass es dringenden Bedarf an Gesetzen gibt, die es privaten Gläubigern unmöglich machen, internationale Restrukturierungen auf dem Rechtsweg zu unterlaufen. Wie solch ein Gesetz beispielsweise in Deutschland aussehen könnte, haben wir hier und hier erklärt. 

Quellen

  • Denise Cote (01.11.2023): „Opinion and Order“, Dokument 77 im Fall 1:22-cv-05199-DLC (Hamilton Reserve Bank Ltd. v. The Democratic Socialist Republic of Sri Lanka).
  • Philippe Guyonnet-Duperat (31.08.2023): „Brief for France and the United Kingdom as members of the Paris Club as Amicus Curiae in support of the Republic of Sri Lanka’s petition for a motion to stay proceedings“, Dokument 69-1 im Fall 1:22-cv-05199-DLC.
  • Damian Williams (02.10.2023): „Statement of Interest of the United States of America“, Dokument 73 im Fall 1:22-cv-05199-DLC.

Alle Gerichtsdokumente sind nach Anmeldung hier einsehbar: https://pacer.uscourts.gov

Weitere Informationen

Deutsche Chinabanken?

Wendet Deutschland eine ähnliche Taktik wie China an, um zu verhindern, dass Forderungen staatlicher Banken Teil von Erlassinitiativen sind? Eine neue Studie legt dies nahe.

Seit drei Jahren veröffentlicht die Weltbank Informationen zu den Forderungen einzelner Gläubigerstaaten. Dabei sind die von der Weltbank berichteten öffentlichen deutschen Forderungen Jahr für Jahr höher als die Forderungen, über die das deutsche Bundesfinanzministerium (BMF) selbst berichtet. Dieses Jahr berichtet die Weltbank über öffentliche deutsche Forderungen in Höhe von rund 30 Milliarden US-Dollar; das BMF weist lediglich umgerechnet 13 Milliarden US-Dollar aus. Für Ägypten und Indonesien übersteigen die Angaben der Weltbank die Angaben des BMF jeweils um mehr als 3 Milliarden US-Dollar. In Indien sind es über 2 Milliarden und in Kolumbien und Marokko mehr als 1 Milliarde US-Dollar. In einzelnen Fällen sind jedoch auch die Angaben des BMF höher als die Angaben der Weltbank. Das ist beispielsweise in Argentinien und China der Fall. Wie sich die Differenzen für die einzelnen Staaten zusammensetzen, findet die Informationen hier [Excel].

Die Weltbank berichtet auf Grundlage der Daten, die Schuldnerländer an sie übergeben. Schuldnerländer berichten also in toto über deutlich mehr ausstehende Schulden gegenüber Deutschland, als die Bundesregierung selbst in ihren Büchern stehen hat. Für zivilgesellschaftliche Akteure wie erlassjahr.de ist es unmöglich, im Einzelfall nachzuvollziehen, auf wessen Seite der Fehler liegt. Zum Teil dürften die Differenzen aber daran liegen, dass Deutschland die Forderungen von Finanzinstitutionen wie etwa der KfW-IPEX-Bank, nicht als öffentliche deutsche Forderungen einstuft. Die IPEX ist zu 100 Prozent im Staatsbesitz, führt aber kommerzielle Kreditgeschäfte durch.

Staatseigene Banken als „privat“ zu klassifizieren, wird sonst eigentlich nur China vorgeworfen. Spätestens seit Ausbruch der Corona-Pandemie und den in Reaktion darauf beschlossenen Maßnahmen der G20-Staaten ist ein heftiger Streit darüber entbrannt, welche chinesischen Finanzinstitutionen als öffentlich und welche als privat einzustufen werden. Mit der sogenannten Debt Service Suspension Initiative (DSSI) hatten die G20-Staaten einkommensschwachen Staaten in den Corona-Krisenjahren 2020 und 2021 angeboten, ihre Schuldenzahlungen vorübergehend auszusetzen. Dieses Moratorium galt allerdings zunächst nur für Schulden bei öffentlichen Gläubigerstaaten. China argumentierte, dass die Forderungen einer der finanzstärksten chinesischen Institutionen, der China Development Bank (CDB), nicht als öffentliche Forderungen einzustufen seien. Die Bank befindet sich zwar im Staatseigentum, tätigt aber nach Angaben Chinas kommerzielle Geschäfte. Mit dieser Logik begründete die chinesische Führung, dass sich die CDB nicht an dem Moratorium beteiligte. Westliche Staaten – darunter die deutsche Bundesregierung – warfen China dieses Vorgehen wiederholt vor.

Nun zeigt ein Bericht der Politikwissenschaftlerin und China-Expertin Deborah Bräutigam, dass sich die deutsche IPEX-Bank offenbar ebenfalls nicht an dem Moratorium beteiligte. Nach Angaben von Bräutigam begründete die Bank ihren Ausschluss damit, dass sich das Moratorium nur auf öffentliche Forderungen beziehe und die IPEX-Bank als kommerzielle Bank daher nicht davon „betroffen sei“.

Dies ist aus mindestens zwei Gründen skandalös:

  1. Die Appelle der deutschen Bundesregierung in Richtung China büßen dadurch an Glaubhaftigkeit ein. Die Regierung handelt sich zurecht den Vorwurf des Doppelstandards ein. Dass dies auch von chinesischer Seite nicht unbemerkt bleibt, zeigt ein Bericht der chinesischen Zentralbank, die den IPEX-Fall als Rechtfertigung für das eigene Vorgehen anführt.
  2. Die Bundesregierung hat den Einbezug des Privatsektors sowohl in die DSSI als auch grundsätzlich in Schuldenrestrukturierungen als ein zentrales Ziel angegeben. Sie hat private Gläubiger daher wiederholt öffentlich aufgefordert, sich freiwillig an dem Moratorium zu beteiligen. Offenbar hat sie die Beteiligung aber noch nicht einmal bei der staatseigenen Bank durchgesetzt.

Bei künftigen Umschuldungen muss die Bundesregierung die Beteiligung der IPEX-Bank sicherstellen. Wir werden ein Auge darauf haben. Zudem sollte sich die Bundesregierung dafür einsetzen, die Differenzen zwischen der eigenen Berichterstattung und den Angaben der Weltbank aufzuklären. Schließlich ist eine verlässliche Datengrundlage die Voraussetzung für ein faires und transparentes internationales Schuldenmanagement. Die Bundesregierung betont dies selbst wiederholt mit Blick auf Transparenzprobleme in Ländern des Globalen Südens. Zunächst sollte sie jedoch vor der eigenen Haustür kehren.

Kein Staateninsolvenzverfahren ist auch keine Lösung

In ihrem Koalitionsvertrag hat sich die Bundesregierung darauf geeinigt, sich international für die Schaffung eines Staateninsolvenzverfahrens einzusetzen. Nun zeigt die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke: Weitreichende Schritte sind insbesondere aus dem Finanzministerium aktuell (noch) nicht zu erwarten. Das ist enttäuschend! Doch halten die Argumente einer genauen Betrachtung stand? 

Der Vorschlag eines kodifizierten Staateninsolvenzverfahrens auf internationaler Ebene erscheint der Bundesregierung – auch angesichts der veränderten Gläubigerstruktur – derzeit nicht zeitnah realisierbar, heißt es von Seite des Finanzministeriums. Dass es sich bei der Schaffung eines Staateninsolvenzverfahrens um ein dickes Brett handelt, wissen wir nur allzu gut. Auch den aktuell amtierenden Parteien dürfte das bereits vor Regierungsantritt bewusst gewesen sein. Trotzdem haben sie sich im Koalitionsvertrag darauf verständigt, „eine Initiative für ein kodifiziertes Staateninsolvenzverfahren“ zu unterstützen. Dieses selbstgesteckte Ziel nach nicht einmal einem Jahr Amtszeit über Bord zu werfen, darf nicht durch die Komplexität der Sache begründet werden und sollte von den Regierungsfraktionen so nicht akzeptiert werden. 

Fehlende internationale Dynamik?

Als deutsche Bundesregierung, die in internationalen Foren und Verhandlungen ein ernstzunehmendes Gewicht aufweist, auf eine fehlende internationale Dynamik zu verweisen, ist nicht vertretbar. Dies gilt insbesondere, da sich abzeichnet, dass es 2025 und damit im letzten Legislatur-Jahr der amtierenden Bundesregierung vorrausichtlich eine vierte internationale Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung geben wird (Financing for Development, FfD). Dies ist exakt der Ort, an dem weitreichendere Reformen beschlossen werden könnten, etwa ein Staateninsolvenzverfahren unter dem Dach der Vereinten Nationen. Ambitionierte Entscheidungsträger*innen würden daher nicht auf fehlende internationale Dynamik verweisen, sondern darauf hinwirken, dass die Durchführung der FfD-Konferenz bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen diesen Herbst beschlossen und das Schuldenthema prominent auf die Tagesordnung gesetzt wird. Wie viele andere G7-Staaten scheint jedoch auch die Bundesregierung eben aktuell doch (noch) nicht bereit, solche Reformen anzustoßen, die ihre eigene Macht und Einflussmöglichkeiten schmälern könnten. 

Festhalten an Macht und Einflussnahme!

Im Klartext heißt das, dass die Bundesregierung – wie auch in der Antwort angedeutet wird – weiterhin ein Interesse daran hat, Fragen der internationalen Schuldenpolitik allein innerhalb exklusiver Zusammenschlüsse wie der G7 und der G20 sowie innerhalb des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank zu entscheiden, in denen die G7-Staaten über 40 Prozent der Stimmrechte halten. Eine Verlagerung der Kompetenzen auf UN-Institutionen, die auch das eigene Mitspracherecht in zukünftigen Verhandlungen zugunsten eines wirklich gleichberechtigten multilateralen Prozesses schmälern würde, wird von der Bundesregierung aktuell offenbar noch nicht als ernsthafte Option bedacht, um dem selbstgesteckten Ziel im Koalitionsvertrag nahezukommen. Dies wird auch aus der ausweichenden Antwort auf einen Unterpunkt in der Anfrage ersichtlich, in dem die Fraktion Die Linke danach fragt, wie die Bundesregierung die Kolonialschuld Deutschlands bei der Befassung mit der Überschuldungsproblematik berücksichtigt und inwiefern die von der Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen darauf abzielen, die asymmetrische Verhandlungsposition zwischen Gläubigern und Schuldnerstaaten im Sinne letzterer zu reformieren. 

Kleinschrittige Reformen und Reförmchen

Insbesondere aufgrund der Schwierigkeit, völkerrechtlich bindende Abkommen zu verabschieden, ist es jedoch auch wichtig, auf niedrigerer Ebene nach Ansatzpunkten zu suchen, die Schuldenrestrukturierungen effizienter und vor allem im Sinne der Bevölkerung des Schuldnerlandes fairer gestalten können. Einige solcher Ansatzpunkte haben wir beispielsweise hier zusammengefasst. Werfen wir daher einen Blick darauf, welche kleinschrittigeren Reformen die Bundesregierung gedenkt anzugehen – und welche nicht: 

  1. Die Bundesregierung betont, dass sie bei kritisch verschuldeten Staaten dafür wirbt, einen Antrag auf Umschuldungsverhandlungen im Rahmen des Common Frameworks zu stellen. Besser als nur zu werben, wäre es aber, das Rahmenwerk attraktiver zu gestalten – Schuldnerländer haben schließlich guten Grund dazu, sich vom Rahmenwerk nicht allzu viel zu versprechen. Bisher haben nur vier Staaten einen Antrag gestellt und die Verhandlungen gehen nur schleppend voran. Echte Erlasse wurden bisher in keinem einzigen Fall zugestanden.
  2. Die Bundesregierung betont, dass alle G20-Staaten grundsätzlich offen dafür seien, Schuldnerländern während der Verhandlungen eine vorübergehende Aussetzung des Schuldendienstes zu gewähren. Das Schuldnerland müsse dies aber beantragen und das sei bisher in keinem Fall geschehen. Na, dann kann man da wohl wirklich nichts machen, oder? Wer genau hinschaut ist schlauer: So betont die Bundesregierung, dass Schuldnerländer einen Antrag auf Zahlungsaussetzung stellen dürfen, diesem im Einzelfall aber von den G20-Staaten im Konsens zugestimmt werden muss. Anders formuliert: Automatisch wollen sie Schuldnerstaaten ein Moratorium nicht gewähren. Wenn ein Moratorium im Einzelfall jedoch nur dann gewährt wird, wenn alle zustimmen, ist damit nichts gewonnen. Schließlich ist es eine Banalität, dass jeder das Recht hat, alles Mögliche zu beantragen, und dass ein Antrag Erfolg hat, wenn ihm zugestimmt wird. Wie wahrscheinlich eine solche konsensuale Zustimmung ist, bleibt für Schuldnerstaaten indes ungewiss. Zudem schweigt die Bundesregierung dazu, ob sie Schuldnerstaaten auch im Falle einer vorübergehenden Zahlungseinstellung gegenüber privaten Gläubigern unterstützen würde. Das es genau darauf ankommt, haben wir hier erklärt. 
  3. Die Bundesregierung setzt sich nach eigenen Angaben dafür ein, sich innerhalb der G20 auf Leitlinien für den Ablauf von Umschuldungsverhandlungen zu verständigen und in diesem Sinne auch klare Fristen zu vereinbaren, in welchem Zeitraum sich ein Gläubigerkomitee gebildet und Finanzierungszusagen getätigt werden sollen. Wenngleich es sich dabei eher um ein Reförmchen handelt, dessen positiver Effekt begrenzt sein dürfte – insbesondere wenn unklar bleibt, was passiert, wenn die selbstgesteckten Fristen verstreichen – wäre die Verabschiedung solcher Leitlinien zu begrüßen. Innerhalb der G20 sei diesbezüglich aber kein Konsens zu erreichen, so das Finanzministerium – gemeint sein dürfte China. 
  4. Die Bundesregierung sei bereit, das Common Framework für mehr Länder zu öffnen. Aktuell haben nur die einkommensschwächsten Staaten die Möglichkeit unter dem Umschuldungsrahmenwerk der G20 zu verhandeln. Orientiert wird sich dabei an den Einkommenskriterien der Weltbank.  Damit möchte die Bundesregierung signalisieren, dass sie den Verbesserungsvorschlägen von Weltbank und IWF offen gegenübersteht. In ihrer Antwort begrenzt das Bundesfinanzministerium die Ausweitung jedoch auf Länder mit unterem mittlerem Einkommen – und ignoriert damit nonchalant, dass IWF und Weltbank fordern, das Common Framework für alle Länder mit Überschuldungsproblemen zu öffnen, also auch für Länder mit hohem mittlerem Einkommen (wie beispielsweise Jordanien, Libanon oder Surinam) und Hocheinkommensländer (wie beispielsweise Chile, Barbados oder Antigua und Barbuda). Auch die Zivilgesellschaft fordert diese Ausweitung. Schon heute sind 36 der 55 Länder mit mittlerem unterem Einkommen antragsberechtigt. Besonders vorwärtsgewandt ist die Aussage des Bundesfinanzministeriums an dieser Stelle also nicht. Letztlich sei aber auch bezüglich der Frage der Ausweitung innerhalb der G20 – insbesondere mit China – kein Konsens zu erzielen. 
  5. Die Bundesregierung wie auch die übrigen G7-Staaten lehnt die Beteiligung multilateraler Entwicklungsbanken an Umschuldungen weiterhin ab. China hingegen fordert die Beteiligung multilateraler Gläubiger vehement. Angesichts des relevanten Anteils der Forderungen multilateraler Institutionen ist das nachvollziehbar: Multilaterale Gläubiger wie IWF und Weltbank sind in mehr als der Hälfte der kritisch verschuldeten Staaten die wichtigste Gläubigergruppe. Das Bundesfinanzministerium begründet seine Haltung unter anderem damit, dass insbesondere hochverschuldete arme Länder von multilateralen Entwicklungsbanken „hoch-konzessionäre“ Kredite erhalten, die die Schuldentragfähigkeit nicht oder entsprechend wenig belasten würden. Eine Auswertung der Angaben der Weltbank zeigt jedoch, dass in mehr als der Hälfte der sehr kritisch verschuldeten Länder weniger als 50 Prozent der multilateralen Kredite zu konzessionären, geschweige denn zu „hoch-konzessionären“ Bedingungen vergeben wurden. Multilaterale Entwicklungsbanken mit diesem Argument pauschal aus jeglichen Umschuldungsverhandlungen raushalten zu wollen, erscheint also nicht belastbar. Immerhin betont das Bundesfinanzministerium, dass man Einzelfalllösungen für Länder finden wolle, wo der Anteil multilateraler Forderungen besonders hoch sei. Das ist tatsächlich mal ein neuer, begrüßenswerter Ton aus der Bundesregierung. 
  6. Die Bundesregierung sieht keine Notwendigkeit, weitere Schritte zu gehen, um die gleichwertige Beteiligung privater Gläubiger an Schuldenerlassen sicherzustellen. Diesbezüglich behauptet das Bundesfinanzministerium, dass die vergleichbare Beteiligung privater Gläubiger in der Vergangenheit grundsätzlich gut funktioniert habe. Empirische Studien sowohl von akademischer Seite als auch von der Weltbank deuten, wie das Bundesfinanzministerium weiß, auf das Gegenteil hin. Die Bundesregierung verweist diesbezüglich aber auf die sehr flexibel auslegbare Definition der „Gleichbehandlung“ des Pariser Clubs, die von der Weltbank und anderen – aus unserer Sicht zurecht – kritisiert wird. Zudem verweist sie auf eine interne Überprüfung der Gleichbehandlung entlang dieser Kriterien, die erstens nicht öffentlich ist und zweitens auch nicht von unabhängiger Seite überprüft werden kann, da die Umschuldungsvereinbarungen des Pariser Clubs nicht öffentlich zugänglich gemacht werden. Das bedeutet also, dass die Bundesregierung uns auffordert, ihr blind zu vertrauen, dass es keinen Handlungsbedarf gebe, obwohl alle öffentlich zugänglichen empirischen Studien auf das Gegenteil hindeuten. Für ein Land, das sowohl China als auch Schuldnerstaaten wiederholt vorwirft, nicht transparent genug zu agieren, ist das eine mutige Position. 
  7. Die Bundesregierung sieht primär Schuldnerstaaten in der Verantwortung, die gleichwertige Beteiligung privater Gläubiger sicherzustellen. Abgesehen davon, dass das Bundesfinanzministerium es so darstellt, als habe die Gleichbehandlung privater Gläubiger in der Vergangenheit gut funktioniert, hänge ihr erfolgreicher Einbezug letztlich von den Verhandlungen des Schuldnerstaates ab. Damit zieht sich die Bundesregierung auf die bequeme Position des Pariser Clubs zurück, der Schuldnerstaaten in Umschuldungsverhandlungen standardmäßig dazu auffordert, eine gleichwertige Beteiligung privater Gläubiger sicherzustellen, ihnen aber nicht die Mittel an die Hand gibt, diese auch gegen unkooperative private Gläubiger durchzusetzen. Das erfolgreichste Druckmittel, das Schuldnerstaaten haben, um private Gläubiger zur Beteiligung an Schuldenerlassen zu bewegen, ist es, Zahlungen (vorübergehend) einzustellen. Wenn Schuldnerstaaten von dieser Option Gebrauch machen, müssen sie aktuell aber damit rechnen, von ihren privaten Gläubigern in Staaten des Globalen Nordens verklagt zu werden. Die Staaten des Globalen Nordens unterstützen private Gläubiger also qua judikativer Gewalt, ihre Forderung im vollen Umfang einzutreiben, und lehnen sich gleichzeitig mit dem Verweis zurück, dass der Einbezug privater Gläubiger im Verantwortungsbereich der Schuldnerstaaten liege. Das ist inakzeptabel. 
  8. Das Bundesfinanzministerium sieht kaum Nutzen in einem deutschen Anti-Holdout-Gesetz. Nationale Gesetze, die die Klage- und Vollstreckungsmöglichkeiten privater Gläubiger gegenüber Schuldnerstaaten einschränken, wären ein wichtiger Beitrag, um Schuldnerstaaten in ihren Verhandlungen mit privaten Gläubigern effektiv zu unterstützen und die Gleichbehandlung privater Gläubiger an Schuldenerlassen sicherzustellen. Da der Großteil der ausstehenden Anleiheforderungen jedoch unter angelsächsischem Recht begeben wurde, schlussfolgert das Bundesfinanzministerium, dass ein solches Gesetz in Deutschland nicht zweckdienlich sei. Diese Überlegung ist jedoch verkürzt und verkennt den Unterschied zwischen schuldrechtlich- und vollstreckungsrechtlich konzipierten Gesetzen. Zu diesem Zweck empfehlen wir dem Bundesfinanzministerium in unseren Podcast „Schuldenschnitt“ reinzuhören. Glücklicherweise ist die Ampel-Regierung nicht immer in allen Punkten einer Meinung: Das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat bereits eine Studie in Auftrag gegeben, die mögliche Ansatzpunkte der Bundesregierung überprüfen soll (darunter Anti-Holdout-Gesetze), die den Einbezug privater Gläubiger an Schuldenerlassen unterstützen. Bleibt zu hoffen, dass die Ergebnisse die vorschnelle Meinung im Bundesfinanzministerium revidieren können. 

Keine Handlungsmöglichkeiten für die Bundesregierung aufgrund Chinas Blockade?

Die Antwort der Bundesregierung liest sich in Kurzfassung wie folgt: Es ist alles wahnsinnig kompliziert. Deutschland sei ja bereit, aber international gebe es insbesondere aufgrund der blockierenden Haltung Chinas wenig Konsens und das Problem der Privatgläubigerbeteiligung werde ohnehin überschätzt. 

Kann die Bundesregierung also schlichtweg nichts tun, da China sich quer stellt? Nein! Selbstverständlich ist die Weigerung Chinas in einigen der oben genannten Punkten nicht akzeptabel. Doch wer wirklich an der Sache interessiert ist, sollte auf die Reformschritte schauen, die im eigenen Verantwortungsbereich liegen – nicht zuletzt, da dadurch auch ein Kompromiss Chinas an anderer Stelle wahrscheinlicher wird. Diese Verantwortlichkeiten – namentlich die Beteiligung privater Gläubiger sicherzustellen und multilaterale Forderungen in Umschuldungsverhandlungen einzubeziehen – erkennt die Bundesregierung jedoch (aktuell noch) nicht an. 

Entschuldung im Koalitionsvertrag: Ein Jahr ist rum

Heute vor einem Jahr verabschiedete die Ampelkoalition ihren Koalitionsvertrag. Auf Seite 154 heißt es dort: 

„Unser Ziel ist ein neuer internationaler Schuldenmanagementkonsens. Wir unterstützen eine Initiative für ein kodifiziertes internationales Staateninsolvenz­ verfahren, das alle Gläubiger miteinbezieht und Schuldenerleichterungen für besonders gefährdete Ländergruppen umsetzt.“

Damit erklärte die neue Regierung die Absicht, ein rechtsstaatliches Entschuldungsverfahren zu schaffen. Allerdings nicht zum ersten Mal – denn bereits die Koalitionsverträge von 2002 und 2009 sahen dieses Ziel vor. Neu ist diesmal jedoch, dass bereits in den Wahlprogrammen aller drei Regierungsparteien (SPD, Grüne, FDP) entsprechende Absichtserklärungen enthalten waren. 

Neu ist auch, dass wir uns heute mitten in einer akuten Schuldenkrise befinden. Viele Länder im Globalen Süden können die Last der Verschuldung nicht mehr tragen. Ihnen gelingt es kaum noch, die Grundbedürfnisse ihrer Bevölkerung sicherzustellen.  Denn die im Zuge der Corona-Pandemie geschaffenen Entschuldungsinitiativen waren unzureichend. Sie konnten die sich immer mehr zuspitzende Schuldenkrise im Globalen Süden nicht entschärfen. In dieser Lage wird einmal mehr deutlich: Ein Staateninsolvenzverfahren muss her! 

Was ist bisher geschehen? 

Kurz nach Verabschiedung des Koalitionsvertrags übernahm die neue Regierung den Vorsitz der G7. Auch über eine Lösung der globalen Schuldenkrise wollten die sieben einflussreichen Staaten diskutieren. Doch die Ergebnisse der diversen Gipfeltreffen zeigen: Echte Reformen oder gar die Schaffung eines Staateninsolvenzverfahrens standen weder beim deutschen Vorsitz noch bei den anderen beteiligten Regierungen weit oben auf der Agenda. Statt auf die eigene Verantwortung zu schauen – und sich im Kreis der G7 beispielsweise auf Maßnahmen zu einigen, die den verbindlichen Einbezug privater Gläubiger gewährleisten könnten verloren sich die Diskussionen im geopolitischen Konflikt zwischen den westlichen Staaten und dem größten öffentlichen Gläubiger China. 

Wenig Ambitionen aus dem Finanzministerium

Als Thema der internationalen Finanzstabilität wird das Entschuldungsthema im Rahmen der G7 und G20 Prozesse primär im sogenannten Finance Track und damit von den Finanzministerien und Notenbanken besprochen. Innerhalb der deutschen Regierung sind aber gerade aus dem Finanzministerium wenig Ambitionen vernehmbar, ambitionierte Schritte zur Erfüllung des Koalitionsvertrag zu gehen. Zwar wird immer wieder die Absicht bekräftigt, das sogenannte Common Framework, auf das sich die G20-Staaten bereits im November 2020 geeinigt haben, effektiv umsetzen zu wollen. Bisher beschränken sich die Initiativen aus dem Ministerium jedoch auf das Erstellen hübscher Grafiken, die die Funktionsweise des Rahmenwerks erklären sollen und dabei galant von den vielfältigen Schwächen der Initiative ablenken (siehe Grafik). Konkrete Schritte, die das Rahmenwerk tatsächlich verbessern könnten, werden nicht gegangen.   

Alles paletti? Nicht ganz! Graphische Darstellung der Funktionsweise des Common Frameworks vom BMF mit Ergänzungen von erlassjahr.de.

Einigung zum Ausgleich klimawandelbedingter Schäden – aber kein Bezug auf Schuldenerlasse

Eine große Errungenschaft der ansonsten eher frustrierenden Klimakonferenz COP27 in Ägypten war die Einigung zur Einrichtung eines neuen Fonds, durch den die Kosten klimawandelbedingter Schäden weltweit fairer verteilt werden sollen. Nach über dreißig Jahren, in denen Länder des Globalen Südens auf einen solchen Mechanismus gepocht haben, war die Einigung am vergangenen Wochenende ein wichtiger Schritt in Richtung mehr globale Klimagerechtigkeit. Gleichzeitig reisten die Vertreter*innen von Ländern des Globalen Südens ohne klare Zusagen darüber ab, wie und von wem der neue Fond bestückt werden soll. Es ist davon auszugehen, dass dies schwierige und langwierige Verhandlungen werden und letztlich nicht genug Mittel zur Verfügung gestellt werden, um eine global faire Verteilung klimawandelbedingter Schäden tatsächlich zu ermöglichen. In diesem Kontext wäre es wünschenswert gewesen, wenn die deutsche Bundesregierung auch im Sinne des Koalitionsvertrags die Option auf Gewährung von Schuldenerlassen infolge klimawandelbedingter Schäden mit in die Verhandlungen in Ägypten eingebracht hätte. Denn die Streichung der infolge klimawandelbedingter Schäden untragbar werdenden Schuldenlast kann ein Beitrag zur fairen Verteilung klimawandelbedingter Schäden sein und wird seit langem von zivilgesellschaftlicher Seite weltweit gefordert. 

Was muss jetzt passieren? 

Um einen echten Beitrag zur Lösung der globalen Schuldenkrise zu leisten, darf sich die Bundesregierung nicht hinter dem Common Framework oder der mangelnden Kooperation internationaler Partner verstecken. 

Den Auftrag im Koalitionsvertrag zu erfüllen, muss dabei keineswegs bedeuten, entweder den großen Wurf zu wagen oder gar nichts zu tun. Es kann auch bedeuten, einzelne Elemente eines Staateninsolvenzverfahrens umzusetzen und kleinere Schritte hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit bei Umschuldungsverhandlungen auf den Weg zu bringen. Diese Schritte müssten auch bestehende Verfahren wie das Common Framework nicht automatisch ersetzen oder schwächen, sondern könnten sie effizienter, fairer und attraktiver für Schuldnerländer gestalten. 

Ein wichtiger Ansatzpunkt, der von der Bundesregierung im Laufe dieser Legislaturperiode umgesetzt werden könnte, ist zum Beispiel die Verabschiedung eines nationalen Gesetzes, das es privaten Gläubigern unmöglich macht, multilaterale Entschuldungsvereinbarungen zu unterlaufen. Auch in den andauernden Verhandlungen zur Beschaffung finanzieller Mittel für den Ausgleich klimawandelbedingter Schäden sollte die Entschuldungsfrage weiter mitbedacht werden. 

Es braucht jetzt mutige Politiker*innen, die es wagen, einen proaktiven Diskurs darüber zu führen, wie der Auftrag im Koalitionsvertrag konkret zu verstehen und umzusetzen ist. Im Bundestag sehen wir einzelne Abgeordnete in zentralen Ausschüssen, die sich des Themas engagiert annehmen. Das Bundesministerium für wirtschafliche Zusammenarbeit und Entwicklung nimmt vor allem die Frage der umfassenden Gläubigerkoordination sehr ernst. Anders als noch 2002 und 2009 werden auch zahlreiche Vorschläge für eine Verbesserung bestehender Entschuldungsverfahren von Staaten und Staatenzusammenschlüssen aus dem Globalen Süden selbst eingebracht. Die Bundesregierung sollte solche Initiativen unterstützen und die Chance ergreifen, auch außerhalb von G7, G20 und EU neue Koalitionen zu schmieden.