Bundestagswahl 2021: Die Position von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Staateninsolvenzverfahren

Am vergangenen Wochenende hat die Partei BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN ihr Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2021 verbindlich verabschiedet. Die Parteimitglieder hatten im Vorfeld mehr als 3.000 Änderungsanträge zum Entwurf des Wahlprogramms eingereicht. Auch der Abschnitt hinsichtlich der Reform der internationalen Schuldenarchitektur hat sich nochmals leicht geändert. Auch diese neuen Formulierungen bleiben aus Sicht von erlassjahr.de jedoch vielversprechend.

Konkrete Schritte hin zu einer faireren internationalen Schuldenarchitektur

  • Die aktuell höchst kritische Verschuldungssituation von Ländern des Globalen Südens wird anerkannt.
  • Das Schuldenmoratorium der G20-Staaten wird zwar begrüßt, aber als unzulänglich betrachtet. Wie erlassjahr.de fordern auch die Grünen echte Erlasse und insbesondere den Einbezug der privaten Gläubiger.
  • Die Notwendigkeit einer systemischen Reform der internationalen Schuldenarchitektur wird betont. So wollen sich die Grünen für die Schaffung eines internationalen, transparenten und unabhängigen Schuldenrestrukturierungsverfahrens einsetzen. Im Wahlprogrammentwurf sprachen die Grünen hier noch wörtlich von einem „Staateninsolvenzverfahren“. Inhaltlich bleibt die Zielsetzung der Grünen jedoch unverändert und aus erlassjahr.de-Sicht ausdrücklich zu begrüßen.
  • Im Gegensatz zum Wahlprogrammentwurf fordern die Grünen im verabschiedeten Programm die Schaffung eines solchen Verfahrens explizit unter dem Dach der Vereinten Nationen. Auch dies ist aus Sicht von erlassjahr.de zu begrüßen, da die Vereinten Nationen einen sehr viel inklusiveren, demokratischeren Rahmen bieten als etwa der IWF.
  • Abschließend wird gefordert, dass Deutschland in Koordination mit anderen änderungswilligen Regierungen pro-aktiv vorangehen solle, solange eine langfristige Lösung international nicht durchsetzbar sei. Auch dies ist eine aus Sicht von erlassjahr.de zu begrüßende Neuerung des jüngst verabschiedeten Programms gegenüber dem Entwurf.

Faireres Weltwährungssystem

Darüber hinaus enthält das Wahlprogramm der Grünen einige Punkte zur Reform des Weltwährungssystems, die sich nicht ganz unmittelbar auf den Umgang mit überschuldeten Staaten beziehen, jedoch aus Sicht von erlassjahr.de ebenso zu begrüßen sind.

  • Dazu zählt, dass sich die Grünen für eine Reform des Internationalen Währungsfonds (IWF) einsetzen wollen, durch die sich das Stimmgewicht zugunsten der Länder des Globalen Südens verschieben würde. Denn die Stimmrechte der einzelnen Länder im IWF setzen sich nach dem per se bereits höchst undemokratischen Prinzip „One Dollar, one Vote“ zusammen. Hinzu kommt, dass die Länder des Globalen Nordens einen noch höheren Stimmanteil halten, als es der Anteil ihrer Wirtschaftsleistung am weltweiten Bruttoinlandsprodukt rechtfertigen würde. Viele wichtige Entscheidungen müssen im IWF mit einer Mehrheit von 85 Prozent getroffen werden. Da die USA noch immer einen Stimmanteil von mehr als 16 Prozent halten, besitzen sie alleine de facto bereits ein Veto-Recht. Eine Reform ist demnach auch aus Sicht von erlassjahr.de dringend notwendig.
  • Des Weiteren sprechen sich die Grünen explizit für Kapitalverkehrskontrollen aus, um den Kapitalabzug aus Ländern des Globalen Südens insbesondere in Krisenzeiten zu beschränken. Zu Beginn der Corona-Krise haben internationale Investoren mehr Geld aus dem Globalen Süden abgezogen als während der Weltfinanzkrise 2008. Das ist unter anderem daher problematisch, da dies die Wechselkurse dieser Länder unter Druck setzt und so den fiskalischen und geldpolitischen Handlungsspielraum der Länder noch weiter einschränkt. Verlieren Währungen von Ländern des Globalen Südens gegenüber dem Dollar oder dem Euro an Wert, erhöht sich auch die reale Verschuldungslast dieser Länder, sofern sie in Fremdwährung verschuldet sind. Daher sind striktere Kapitalverkehrskontrollen auch aus Sicht von erlassjahr.de zu begrüßen.
  • Und schließlich fordern die Grünen, dass der IWF sehr viel mehr Gelder unkonditioniert, also ohne strenge Bedingungen und Vorgaben, zur Verfügung stellen solle. Zu diesem Zweck kann der IWF etwa sogenannte „Sonderziehungsrechte“ – eine internationale Reservewährung – schaffen. Wie dieses Instrument genau funktioniert, erklärt erlassjahr.de hier. International ist man sich bereits einig, dass im Laufe des Jahres 2021 Sonderziehungsrechte in Höhe von 650 Milliarden US-Dollar geschaffen werden sollen. Ein Großteil dieser Mittel wird jedoch an Länder des Globalen Nordens fließen. Die Grünen sprechen sich in ihrem Wahlprogramm dafür aus, dass Deutschland die ihm zugeteilten Mittel umwidmen und somit Ländern des Globalen Südens zur Verfügung stellen solle und nehmen damit eine Forderung vieler Länder des Globalen Südens in ihrem Wahlprogramm auf.

Parlamentarische Initiativen

Nun ist es eine Sache, was Parteien in ihr Wahlprogramm aufnehmen, und eine andere, wofür sie sich tatsächlich stark machen und parlamentarisch Energie aufbringen. Doch auch in dieser Hinsicht haben sich die Grünen insbesondere im Laufe des letzten Jahres hervorgetan.

Im Rahmen von zwei Anträgen hat sich die Fraktion für die Schaffung eines transparenten und unabhängigen internationalen Staateninsolvenzverfahrens eingesetzt. Beide Anträge wurden zwar erwartungsgemäß mit den Stimmen der Regierungsparteien, der FDP und der AfD abgelehnt. Doch zumindest eröffneten sie eine Debatte im Bundestag, die die anderen Fraktionen zwang, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und ihre Positionen offenzulegen.

Schuldenumwandlungen

Im Laufe des letzten Jahres hat auch die Debatte um Schuldenumwandlungen zugenommen. Dahinter steckt der Gedanke, dass Gläubiger auf die Rückzahlung ihrer Forderungen verzichten, sofern das Schuldnerland die freiwerdenden Mittel in umweltschützende oder entwicklungs- und gesundheitsfördernde Maßnahmen investiert. Deutschland ist eines der wenigen Länder, welches über ein offizielles Schuldenumwandlungsprogramm verfügt. Dieses erlaubt es der Regierung, jährlich auf Forderungen in Höhe von bis zu 150 Millionen Euro zu verzichten. Eine schriftliche sowie eine mündliche Anfrage des entwicklungspolitischen Sprechers der Grünen, Uwe Kekeritz, aus dem letzten Jahr brachte zutage, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung diese Möglichkeiten in den letzten fünf Jahren bei weitem nicht ausgeschöpft hat: Im Zeitraum von 2015 bis 2020 wäre die Umwandlung von 900 Millionen Euro möglich gewesen – verbindlich umgeschuldet wurden jedoch nur 124 Millionen Euro.

Im April 2021 forderten die Grünen die Bundesregierung in einem weiteren Antrag auf, Klimaziele und Entwicklungspolitik konsequent aufeinander auszurichten und zu diesem Zweck auch Schuldenumwandlungen im größeren Umfang zu gewähren. Die rechtliche Grundlage ist mit der Schuldenumwandlungsfazilität dafür bereits gegeben und müsste von einer engagierten Regierung lediglich genutzt werden. Die Fraktion der Grünen sprach sich im letztgenannten Antrag außerdem für ein verbindliches Schuldenmoratorium in Reaktion auf Naturkatastrophen aus, wie es von erlassjahr.de seit langem gefordert wird.

Ausblick

Es bleibt zu hoffen, dass die Grünen, falls sie an der nächsten Regierung beteiligt sein sollten, ihre ambitionierten Ziele und insbesondere die konkreten Umsetzungsschritte nicht vergessen. Die bisherigen Zeichen deuten jedoch darauf hin, dass eine Regierungsbeteiligung der Grünen eine deutlich ambitioniertere, solidarischere Politik hervorbringen könnte – die im Hinblick auf die akute Schuldenkrise im Globalen Süden auch dringend nötig wäre. Der deutsche G7-Vorsitz im Jahr 2022 bietet sich an, um in diesem Gebiet pro-aktiv und koordiniert mit anderen Regierungen voranzuschreiten.

 

Die Formulierung im Wortlaut

„Viele Länder des globalen Südens befinden sich in einer Schuldenkrise. Das derzeitige Schuldendienstmoratorium ist richtig, verschiebt das Problem aber in die Zukunft. Wir brauchen solide Schuldenrestrukturierungen und auch Schuldenerlasse, die Ländern Luft für eine nachhaltige Entwicklung verschaffen. Um für künftige Überschuldungskrisen vorzusorgen, setzen wir uns für ein bei den Vereinten Nationen angesiedeltes, transparentes und unabhängiges Schuldenrestrukturierungsverfahren für Staaten ein. Private Gläubiger müssen rechtlich dazu verpflichtet werden, an einem solchen Verfahren teilzunehmen, damit Entschuldungen nicht mehr blockiert werden können und so etwa Geierfonds auf Kosten anderer profitieren. Solange eine internationale Lösung nicht durchsetzbar ist, müssen Deutschland und andere Regierungen mit koordinierter Gesetzgebung den Anfang machen. Damit wollen wir den zu hoch verschuldeten Staaten im globalen Süden weitere Handlungsspielräume für sozial- ökologische Transformationsprozesse ermöglichen, etwa um ihre Gesundheits- Bildungs- und Sozialsysteme zu verbessen.“

Auszug aus dem vorläufig verabschiedeten Wahlprogramm von Bündnis 90/die Grünen zur Bundestagswahl 2021, im Kapitel 6 „International zusammenarbeiten“, im Abschnitt „Wir streiten für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung“, unter dem Titel „Entwicklung ermöglichen, Schuldenkrisen lösen.“

 

Zum Vergleich: Die Formulierung im Wortlaut im Programmentwurf vom 19.3.2021

„Viele Entwicklungsländer sind überschuldet. Beispielsweise gibt Pakistan 40 Prozent seines Etats für den Schuldendienst, aber nur 2 Prozent für Gesundheit aus. Das derzeitige Schuldenmoratorium ist richtig, verschiebt das Problem aber in die Zukunft. Wir brauchen einen echten Schuldenerlass. Dafür muss ein international transparentes und unabhängiges Staateninsolvenzverfahren für die Länder geschaffen werden, die nicht in ihrer eigenen Währung verschuldet sind. Private Gläubiger müssen rechtlich dazu verpflichtet werden, an einem Insolvenzverfahren teilzunehmen. So können wir den Zustand beenden, dass einzelne Gläubiger eine Entschuldung blockieren, und verhindern, dass einzelne private Gläubiger wie Geierfonds auf Kosten anderer profitieren. Damit wollen wir den zu hoch verschuldeten Staaten im globalen Süden auch ermöglichen, ihre Gesundheitssysteme zu verbessen, sie für alle zugänglich zu machen sowie Ansätze zum Schutz von Wasser-, Sanitärversorgung und Hygiene voranzutreiben. Schuldenerlasse und -umwandlungen soll es für Maßnahmen im Gesundheitsbereich sowie im Kampf gegen die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Krise geben. Zudem werden wir uns für ein langfristiges globales Corona-Hilfspaket für strukturschwache Länder, Krisenregionen sowie Flüchtlingslager engagieren.“

Auszug aus dem Wahlprogrammentwurf von Bündnis 90/die Grünen zur Bundestagswahl 2021, im Kapitel „International zusammenarbeiten“, im Abschnitt „Wir streiten für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung“, unter dem Titel „Entwicklung ermöglichen, Schulden streichen.“

 

Weitere Infos und Parteipositionen:

Bundestagswahl 2021: Die Position der FDP zum Staateninsolvenzverfahren

Am vergangenen Wochenende hat die FDP ihr Wahlprogramm verbindlich verabschiedet. erlassjahr.de begrüßt, dass die Sinnhaftigkeit eines geordneten Staateninsolvenzverfahrens darin anerkannt wird. Explizit fordern die Freien Demokraten die Schaffung eines solchen Verfahrens jedoch nur auf europäischer Ebene.

Staateninsolvenzverfahren im Wahlprogramm 2021

Im Abschnitt Gläubigerbeteiligung bei Finanzierungskrisen einzelner Staaten in der Eurozone heißt es:

„Wir Freie Demokraten wollen ein Verfahren für geordnete ‚Staatsinsolvenzen‘ schaffen. Damit wollen wir private Gläubiger einzelner Staaten stärker in die Verantwortung nehmen. (…) Eine solche Beteiligung des Privatsektors wäre gleichzeitig die wirksamste Krisenprävention, weil ein Staat sich dann in der Regel gar nicht erst unangemessen hoch verschulden könnte.“

Beteiligung der privaten Gläubiger entspricht marktwirtschaftlichem Grundprinzip

Es ist aus Sicht von erlassjahr.de zu begrüßen, dass die Freien Demokraten ganz im Sinne des marktwirtschaftlichen Grundsatzes dafür einstehen, dass diejenigen privaten Investoren, die durch den Kauf von Staatsanleihen ein potenziell gewinnbringendes Geschäft eingehen, auch die Risiken dieses Geschäfts tragen und damit im Falle der Zahlungsunfähigkeit von Staaten ihren fairen Anteil der Anpassungskosten mittragen müssen. In der Eurokrise konnten sich private Banken vor allem westeuropäischer Länder durch die öffentlichen Kreditprogramme aus den krisengeschüttelten Ländern zurückziehen, so dass sie selbst nur ein geringes Verlustrisiko ihrer vormals profitablen Anlage tragen mussten. Dadurch wurden die Kosten der fehlgeschlagenen Investition nicht nur sozialisiert, auch waren Kreditvergabeentscheidungen nicht immer nachhaltig, konnten private Banken doch darauf wetten, dass im Krisenfall der öffentliche Sektor – und damit der europäische Steuerzahler – einspringt. Ein Staateninsolvenzverfahren würde private Gläubiger in die Pflicht für ihre Anlageentscheidung nehmen und somit nicht nur zu einer fairen Krisenlösung, sondern auch zu verantwortlicherer Kreditvergabe beitragen. Wie die FDP sieht auch erlassjahr.de damit die Etablierung einer solchen Instanz potenziell als hilfreich an, um Schuldenkrisen bereits im Vorhinein zu vermeiden.

 „Entpolitisierung“ der Wirtschaftspolitik

Die nächsten Abschnitte im Wahlprogramm der FDP zeigen, dass der Fokus der Partei hier primär auf dem Schutz der (deutschen) Steuerzahler*innen liegt, die letztlich dafür haften, wenn die Zahlungsunfähigkeit einzelner EU-Staaten allein durch öffentliche Hilfsgelder überbrückt wird. Die ungleiche Lastenverteilung von Anpassungskosten in der bisherigen Praxis, nach der vor allem wirtschaftlich schlechter Gestellte in den Schuldnerländern, wie Rentner*innen, Arbeitslose und Geringverdienende in Griechenland die Hauptlast der Anpassungskosten tragen mussten, wird von der FDP hingegen nicht problematisiert. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die FDP fordert, den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu einem effektiven Europäischen Währungsfonds umzubauen, der die „Ausgestaltung der makroökonomischen Anpassungsprogramme und die Kontrolle ihrer Umsetzung in den Darlehen nehmenden Ländern“ übernimmt und dabei kein Wort dazu verliert, dass viele der Anpassungsprogramme der Vergangenheit in ihren Effekten sozial höchst unausgewogen und in ihrer wirtschaftlichen Effizienz mindestens zweifelhaft waren. Nein, die FDP verliert dazu kein Wort, sie ist hingegen überzeugt, dass wirtschaftspolitische Entscheidungen „entpolitisiert“ werden können und sollten. Die Handlungsmöglichkeiten von demokratisch gewählten Regierungen durch die Vorgaben einer solchen Kommission entscheidend einzuschränken, erscheint jedoch nicht zuletzt für die Stabilität und das Vertrauen der Bürger*innen in demokratische politische Institutionen höchst problematisch.

Was auf europäischer Ebene sinnvoll wäre, wird auch international gebraucht

Leider fordert die FDP ein Insolvenzverfahren für Staaten nur auf europäischer Ebene und für Länder und Kommunen auf nationaler Ebene. Dabei läge es doch nahe, eine solche Institution mit eben jenen Argumenten auch auf internationaler Ebene zu fordern. Tatsächlich hat sich die FDP diesbezüglich in der Vergangenheit schon deutlich positioniert. So setzte sie sich 2009 dafür ein, dass die schwarz-gelbe Regierung im Koalitionsvertrag das Ziel formulierte, sich für die Implementierung einer internationalen Insolvenzordnung einzusetzen. Passiert ist diesbezüglich in den folgenden vier Jahren jedoch sehr wenig. Den Antrag der Grünen vergangenes Jahr, der die Regierung aufforderte, sich international für ein ebensolches Verfahren einzusetzen, lehnte die FDP ab. Im zuständigen Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bekräftigte die Fraktion jedoch, dass es nach ihrer Ansicht auch auf internationaler Ebene dringend einen Mechanismus brauche, der über die bestehenden Einrichtungen hinausgehe, und dass „ein internationales und transparentes Staateninsolvenzrecht (…) hierbei auch nach Ansicht der Fraktion der FDP das zielführende Instrument (sei)“. Es ist bedauerlich, dass es diese progressiveren Formulierungen nicht an die entscheidende Stelle im Wahlprogramm der FDP geschafft haben.

Notwendigkeit von Präventionsmaßnahmen nicht gegen strukturelle Reformen der internationalen Schuldenarchitektur ausspielen

In Reaktion auf die Veröffentlichung des Schuldenreports 2021 von erlassjahr.de und MISEREOR erklärte der entwicklungspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Dr. Christoph Hoffmann im Januar:

„Damit die junge Generation eine Zukunftsperspektive hat, muss es Überlegungen für einen Schuldenschnitt geben. Dieser muss aber mit einer umfassenden Anti-Korruptionskampagne ummantelt werden, da sonst die erneute Schuldenlast nur eine Frage der Zeit ist.“

Auch hier bekräftigt die FDP also grundsätzlich ihre Unterstützung einer internationalen Entschuldungsinitiative. Klarzustellen ist jedoch: Ein einmaliger Schuldenschnitt wäre aus Sicht von erlassjahr.de in Krisenzeiten, wie wir sie aktuell beobachten, zwar unbedingt angebracht. Die grundsätzliche Forderung nach einem permanenten fairen und transparenten Staateninsolvenzverfahren geht aber weit darüber hinaus. Und das aus gutem Grund: Solange Staaten Entwicklung primär über (ausländische) Kreditaufnahme finanzieren, wird es auch immer wieder zu Schuldenkrisen kommen. Die Kreditvergabe und -aufnahme kann und sollte unter anderem durch sinnvolle Anti-Korruptionsmaßnahmen verantwortungsbewusster gestaltet werden, um Schuldenkrisen vorzubeugen. Wie oben bereits dargelegt wurde, könnte die Schaffung eines internationalen Staateninsolvenzverfahrens auch dazu einen Anreiz schaffen. Wichtig ist hier jedoch, dass die verschiedenen Ansätze nicht gegeneinander ausgespielt werden. Schon in der Vergangenheit musste die sinnvolle Debatte um Krisenprävention dafür herhalten, um eine umfassende Reform der Verfahren zur Bewältigung von Schuldenkrisen politisch zu unterlaufen. Statt konkrete Handlungsschritte für den Umgang mit der sich abzeichnenden Krise zu erarbeiten, versteiften sich Gläubigernationen und internationale Finanzinstitutionen vor der Pandemie auf den bereits vor vielen Jahren festgelegten Kurs, mit einigen präventiven Maßnahmen werde sich die nächste Krise schon vermeiden lassen. Soweit darf es nicht wieder kommen: Denn auch bei einer verantwortlichen Vergabepraxis wird es nicht zuletzt durch unvorhersehbare Ereignisse wie Naturkatastrophen oder der aktuellen Corona-Pandemie zur Überschuldung kommen. Spätestens zur Bewältigung dieser externen Schocks braucht es faire, effiziente und transparente Verhandlungsverfahren.

Im Falle einer Regierungsbeteiligung der FDP gilt es aus Sicht von erlassjahr.de darauf zu hoffen, dass der FDP bewusst wird – oder durch einen progressiveren Koalitionspartner daran erinnert wird – dass das, was sie auf europäischer Ebene für sinnvoll erachtet, auch auf internationaler Ebene wünschenswert und unbedingt notwendig wäre. Und sich dann – anders als während der letzten Regierungsbeteiligung – auch erfolgreich dafür einsetzt.

 

Die Formulierung im Wortlaut

„Wir Freie Demokraten wollen ein Verfahren für geordnete „Staatsinsolvenzen“ schaffen. Damit wollen wir private Gläubiger einzelner Staaten stärker in die Ver­antwortung nehmen. Bevor an ein Mitglied der Eurozone öffentliche Mittel aus dem Europäischen Währungsfonds (EWF) fließen, muss es künftig eine Beteili­gung der privaten Gläubiger dieses Staates an den Stabilisierungslasten geben, zumindest in Form einer Laufzeitverlängerung der jeweiligen Staatsanleihen. Eine solche Beteiligung des Privatsektors wäre gleichzeitig die wirksamste Kri­senprävention, weil ein Staat sich dann in der Regel gar nicht erst unangemes­sen hoch verschulden könnte. Auch müssen der EWF und der Finanzstabilitäts­rat mit ihrer analytischen Kompetenz bereits frühzeitig in die Krisenprävention eingebunden werden.”

Auszug aus dem Wahlprogramm der FDP zur Bundestagswahl 2021, im Kapitel “Nie wa­ren die Chancen größer: Bewältigen wir die großen Herausforderungen unserer Zeit!” unter der Überschrift “Klare Regeln”, im Abschnitt “Gläubigerbeteiligung bei Finanzie­rungskrisen einzelner Staaten in der Eurozone”, verabschiedet im Mai 2021.

 

Weitere Infos und Parteipositionen:

Bundestagswahl 2021: Die Position der SPD zum Staateninsolvenzverfahren

Am vergangenen Sonntag hat die SPD als erste Partei ihr Wahlprogramm verbindlich verabschiedet. erlassjahr.de begrüßt, dass sich die SPD darin ausdrücklich des Themas der Verschuldung des Globalen Südens annimmt. Erst vor knapp einem Monat sprach SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz in seiner Funktion als Bundesfinanzminister davon, dass Stundungen des Schuldendienstes allein für viele Länder nicht reichen würden und es für einige nötig sei, ihnen die Schulden komplett zu erlassen. In ihrem Wahlprogramm hat die SPD die Forderung nach einem internationalen Staateninsolvenzverfahren nun seit sechzehn Jahren erstmals wieder explizit aufgenommen. Für erlassjahr.de ist dies zunächst ein Grund zur Hoffnung auf eine ambitioniertere Entschuldungspolitik. Allerdings gibt es noch einige Unklarheiten in der Positionierung der SPD und es muss sich erst noch zeigen, wie ambitioniert die SPD Reformbemühungen in diesem Feld tatsächlich vorantreiben wird.

Blick zurück: Proaktives Handeln der SPD zur Jahrtausendwende

Werfen wir zunächst einen Blick zurück: Zur Jahrtausendwende spielte die rot-grüne Regierung durchaus eine wichtige Rolle dabei, die Entschuldungsinitiative für hochverschuldete arme Länder (HIPC-Initiative) endlich zu einer effektiven Schuldenerlassinitiative auszuweiten. 2002 formulierten Grüne und SPD in ihrem Koalitionsvertrag dann ausdrücklich die Absicht, „sich mit Nachdruck für ein internationales Insolvenzverfahren einsetzen“ zu wollen. Zum damaligen Zeitpunkt entsprach das durchaus dem Zeitgeist. Arbeitete doch auch der Internationale Währungsfonds (IWF) gerade an einem – zumindest nach seinem Verständnis – ebensolchem Vorhaben. Nachdem der IWF seine Arbeit an diesem Vorhaben jedoch insbesondere auf Druck der US-Regierung unter George W. Bush einstellte, verloren sich auch die Ambitionen der rot-grünen Bundesregierung. Seit 2005 hat sich die SPD dann zumindest in ihren zentralen Wahl- und Parteiprogrammen nicht mehr ausdrücklich zu diesem Thema positioniert.

Blick nach vorn: Staateninsolvenzverfahren im Wahlprogramm 2021

Im frisch verabschiedeten “Zukunftsprogramm” der SPD, dem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2021, heißt es nun:

„Viele Länder befanden sich schon vor der Corona-Pandemie in einer Schuldenkrise, die jetzt noch vergrößert wird. (…) Wir unterstützen eine Initiative für ein globales Staateninsolvenzverfahren, das staatliche und vor allem private Gläubiger miteinbezieht und das Schuldenerlasse für besonders gefährdete Ländergruppen formuliert und umsetzt.“

erlassjahr.de begrüßt die darin implizit formulierte Anerkennung der Reformnotwendigkeit der aktuellen, höchst undemokratischen und nicht auf rechtsstaatlichen Prinzipien ruhenden internationalen Praxis im Umgang mit überschuldeten Staaten. Allerdings schließt die SPD nur staatliche und private Gläubiger mit ein. Zu einer effektiven Gläubigerkoordination und effizienten Lösung von Schuldenkrisen müssten jedoch alle Gläubiger eines Landes in ein Umschuldungsverfahren einbezogen sein. Unklar ist, ob die SPD auch multilaterale Gläubiger, also zum Beispiel die Weltbank, in ein entsprechendes Verfahren einbeziehen würde oder aber ob sie bei der aktuellen Regierungshaltung bleibt und den Einschluss prinzipiell ablehnt.

Die SPD verweist zudem darauf, dass „Schuldenerlasse für besonders gefährdete Ländergruppen formuliert und umgesetzt“ werden sollen. erlassjahr.de begrüßt, dass die SPD dadurch anerkennt, dass die aktuelle Regelung, die Maßnahmen wie das Schuldenmoratorium DSSI und das im November verabschiedete Common Framework for Debt Treatments beyond the DSSI der G20 nur für die 73 einkommensschwächsten Staaten der Welt öffnet, unzureichend ist, da sie andere Ländergruppen, die Schuldenerleichterungen genauso nötig hätten, kategorisch ausschließt. Wer genau die “besonders gefährdeten Ländergruppen” sein sollen und nach welchen Kriterien und von wem sie ausgewählt würden, bleibt jedoch offen. Aus Sicht von erlassjahr.de wäre es ein längst überfälliger Schritt, die bereits bestehenden Schuldenerleichterungmaßnahmen nach tatsächlicher Bedürftigkeit und nicht nach dem willkürlich gewährten Kriterium des Pro-Kopf-Einkommens zu gewähren und damit etwa auch besonders krisengeschüttelte Mitteleinkommensländer zu entlasten. Im Rahmen eines internationalen Staateninsolvenzverfahrens muss es zudem allen kritisch verschuldeten Ländern jederzeit möglich sein, über die ausstehenden Forderungen in fairer und transparenter Weise und unter Einbezug einer unabhängigen Instanz zu verhandeln. Die Formulierung im Wahlprogramm der SPD bleibt in dieser Hinsicht noch unklar und lässt die Frage aufkommen, ob sich die Ambitionen der SPD nur darauf beschränken, etwa das Common Framework für eine weitere Gruppe von Ländern zu erweitern. Auch dies wäre zweifelsohne wünschenswert, der große Wurf wäre das jedoch nicht und grundlegende Machtungleichgewichte in Schuldner-Gläubiger-Beziehungen würden damit keineswegs behoben werden.

Blick aufs Regierungshandeln: Da wäre mehr drin gewesen

Gibt es mit der SPD Hoffnung auf grundlegende Veränderungen, also systematischere Reformbemühungen, die über die aktuellen gläubigerdominierten Maßnahmen deutlich hinausgehen? Aktuelles Regierungshandeln lässt daran Zweifel aufkommen: Sowohl die DSSI als auch das Common Framework wurden maßgeblich von den Finanzminister*innen und Notenbankgouverneur*innen der G20 Staaten vereinbart. Im Falle Deutschlands heißt das: federführend vom SPD-geleiteten Bundesfinanzministerium. Schon früh war es den Deutschen ein Anliegen, dass private Gläubiger durch die öffentlichen Konzessionen nicht einfach weiter bedient werden, sondern ebenfalls ihren Anteil tragen. Konsens dafür gab es innerhalb der G20 jedoch nicht. Konkrete Schritte auf nationaler Ebene, die auch außerhalb der G20 möglich gewesen wären, wie zum Beispiel die Schaffung eines nationalen „Anti-Geier-Gesetzes“, das den Einbezug privater Gläubiger verbindlicher hätte regeln können, ging die Bundesregierung nicht an. Auch positionierte sich die Bundesregierung zwar grundsätzlich positiv zu einer Ausweitung der Maßnahmen auch auf andere Länder. Stimmen, die dies vorantreiben wollten, etwa Initiativen aus dem Globalen Süden im Rahmen des UN-geleiteten Financing for Development Forums im April 2021, wurden jedoch nicht proaktiv unterstützt, Man wolle lieber erst einmal abwarten, bis sich das Common Framework in den ersten Länderfällen „bewiesen“ habe. Ein halbes Jahr nach Schaffung des Common Framework wurde noch immer keine Umschuldung abschließend verhandelt; nur drei Länder (Tschad, Äthiopien und Sambia) haben überhaupt eine Umschuldung beantragt, viele Länder bleiben ausgeschlossen. Die von Entwicklungsländern im Rahmen der Vereinten Nationen eingebrachten Forderungen auch nach kleinen Schritten hin zu einem Staateninsolvenzverfahren wurden unter anderem aktiv von der Europäischen Union blockiert.

Blick ins Parlament: Schuldenerlasse ja, Systemänderung (noch) nicht

Und auch im Parlament überzeugten die Argumente der SPD zuletzt nicht: Im Juli 2020 brachten die Grünen einen Antrag im Deutschen Bundestag ein, der die Regierung dazu aufforderte, sich aktiv um die Schaffung eines fairen und transparenten internationalen Staateninsolvenzverfahrens zu bemühen. Der Antrag umfasste detailliert so gut wie alle Aspekte, die auch aus Sicht von erlassjahr.de an einer solchen Institution zentral wären und wurde im November im Bundestagsplenum beraten. Die SPD lehnte den Antrag – gemeinsam mit CDU/CSU, FDP und AfD – ab. Unter anderem mit der Begründung, ihrerseits einen vergleichbaren Antrag bereits einen Monat zuvor eingebracht zu haben. In eben jenem Antrag ist jedoch keinesfalls die Rede von wirklichen strukturellen Reformen, sondern lediglich davon, „international mit den anderen Gebern abgestimmt zu prüfen, inwieweit weitere Schuldenerleichterungen oder auch Schuldenerlasse für die von der Corona-Pandemie besonders betroffenen Entwicklungs- und Schwellenländer möglich sind.“ Allein weiter in exklusiven Foren mit anderen Gebern zu überprüfen, inwieweit Schuldenerlasse möglich seien, kommt den langjährigen Forderungen der Entschuldungsbewegung nach einem faireren, transparenteren und auf rechtsstaatlichen Prinzipien ruhenden Umgang mit überschuldeten Staaten keinesfalls nach und wird vermutlich nicht wirksam sein, um die bisherige Praxis, die auch nach Ansicht des IWF durch zu geringe und zu späte Erlasselemente gekennzeichnet ist, zu durchbrechen. Das “globale Staateninsolvenzverfahren”, das die SPD laut ihrem Wahlprogramm 2021 unterstützen will, müsste so ausgestaltet sein, dass es diese Mängel behebt.

 

Die Formulierung im Wortlaut

“Viele Länder befanden sich schon vor der Corona-Pandemie in einer Schuldenkrise, die jetzt noch vergrößert wird. Zentrale Säulen der Entwicklungsfinanzierung sind zusammengebrochen und Finanzströme ausgetrocknet. Das kurzfristige Aussetzen des Schuldendienstes im Rahmen der G20 und des IWF brachte Erleichterung. Wir unterstützen eine Initiative für ein globales Staateninsolvenzverfahren, das staatliche und vor allem private Gläubiger miteinbezieht und das Schuldenerlasse für besonders gefährdete Ländergruppen formuliert und umsetzt.”

Auszug aus dem Zukunftsprogramm der SPD zur Bundestagswahl 2021, verabschiedet am 9. Mai 2021, im Kapitel IV “Souveränes Europa in der Welt” unter der Überschrift “Frieden sichern”

 

Weitere Infos und Parteipositionen: