Der Ischgl-Moment der internationalen Anleger und ihrer Ratingagenturen

Avatar-Foto Jürgen Kaiser, erlassjahr.de
19. März 2021

Die Erfahrungen, die Äthiopien und andere Länder machen, welche zweifellos einen Schuldenschnitt benötigen, um aus der Corona-Rezession wieder auf die Beine zu kommen, ähneln der Diskussion, die wir hier über Lockerungen in der Corona-Krise führen: Gastwirte und Einzelhändler weisen mit Recht daraufhin, dass der Lockdown für sie richtig schlecht ist und verlangen mit dem politischen Gewicht, das sie auf die Waage bringen können, dass dem Spuk nun ein Ende gemacht werde. Über die drohende dritte Welle reden sie nicht, oder handeln sie mit einem eher nichtssagenden Hinweis auf „Hygiene-Konzepte“ ab.

Aus ihrer Sicht ist das verständlich. Aus der Sicht der gesamten Gesellschaft wird es fatal, wenn die Politik von solchen Partikularinteressen ihre Handlungen leiten lässt. Was leider geschieht.

Anleger, die in Anleihen und Bankkredite an Länder wie Äthiopien investiert haben, argumentieren ähnlich. Nur, dass sie dreist nicht ihre eigenen Verluste in den Mittelpunkt ihrer Argumentation stellen, sondern in vorgeblicher Fürsorglichkeit die Gefahren, denen die betroffenen Länder sich mit einem Schuldenschnitt aussetzen würden. Wichtigstes Glied in dieser Argumentationskette ist die Herabstufung der betroffenen Länder durch die internationalen Ratingagenturen im Falle der Inanspruchnahme der G20-Schuldenerleichterungen und in deren Folge auch der Reduzierung der Privatsektor-Forderungen.

Die Ratingagenturen – weil dies nun mal ihr Mandat ist – spielen dieses Spiel mit und berichten regelmäßig über Herabstufungen, die drohen oder bereits erfolgt sind. Nicht wenige Finanzverantwortliche der betroffenen Länder lassen sich davon einschüchtern und schwören öffentlichkeitswirksam jeder Einbeziehung privater Gläubiger in künftige Umschuldungen ab. Sie können das nur tun, solange sie hoffen, dass dann eben der öffentliche Sektor – also Gläubigerregierungen und multilaterale Geber wie Weltbank und Internationale Währungsfonds (IWF) – einen umso größeren Teil der notwendigen Schuldenreduzierungen schultert. Die Regierungen der G20 haben erklärt, dass sie dazu nicht (länger) bereit sind. Es wird in Fällen wie Äthiopien spannend, ob sie das auch tatsächlich durchsetzen. Und wenn ja, wie.

Damit sind wir bei dem, was man als den „Ischgl-Moment“ der internationalen Anleger bezeichnen könnte: Klar ist, dass die Krise der betroffenen Länder mit jedem Tag dramatischer und deren Überwindung mit jedem Tag teurer wird. Aber weil einzelne Anleger ihre kurzfristige Rendite sehr und das langfristige Schicksal des Landes überhaupt nicht interessiert, wird argumentiert, dass Länder besser weiter zahlen – auch, wenn sie die Mittel dafür nur durch weitere und noch teurere Verschuldung beschaffen können. Nur dieses eine Wochenende der Skisaison noch über die Bühne gehen lassen, danach kann man über Quarantäne gerne reden.

Ist es zielführend, wie kleine Kinder vor der damals ersten, heute dritten Corona-Welle, oder eben vor der inzwischen zweiten großen Staatspleiten-Welle in Afrika die Augen zu verschließen? Ist es realistisch, anzunehmen, die Krisen seien verschwunden, wenn man die Augen wieder aufmacht? 

Dem individuellen Anleiheinhaber kann man ein solches Verhalten genauso vorwerfen wie dem Aprés-Ski-Gastwirt seinerzeit. Aber ändern wird das nichts. Die Perspektive von Anlegern wird immer wie die von Individualtouristen sein: Meine Rendite, mein Umsatz oder – aus der Sicht des Touristen – mein Vergnügen hier und jetzt. Danach kann man gerne weiter sehen. 

Wirklich unverantwortlich ist das Verhalten derjenigen, die politisch für das große Ganze – den Schutz der öffentlichen Gesundheit, die wirtschaftliche und fiskalische Stabilität eines ganzen Landes bzw. sogar der Weltwirtschaft – Verantwortung tragen. Sie können und müssen den Lockdown erzwingen, wo er ohne Alternative ist, und ebenso die Beteiligung privater Gläubiger an der Schuldenrestrukturierung von Ländern, die längst strukturell zahlungsunfähig sind.

Dann würde man auch erkennbar, dass die vorgebliche Sorge der Anleger um den Zugang der verschuldeten Länder zum Kapitalmarkt nur vorgeschoben war. Die Erfahrung zeigt, dass Herabstufungen aufgrund einer Umschuldung dann lediglich kurzzeitige Phänomene sind, wenn die darauf folgende Umschuldung zu einem tatsächlichen wirtschaftlichen Neuanfang führt. Dessen positiver Effekt überkompensiert in der Regel jede kurzzeitige Erhöhung der Kapitalkosten.

So, wie man in Ischgl in diesem Jahr vielleicht eine akzeptable Skisaison gehabt hätte, wenn damals die örtliche Virenschleuder (so wie alle anderen) zeitig und entschlossen zugemacht worden wäre. 

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