Lehren aus der Vergangenheit – Historische Schuldenerlasse als Inspirationsquelle für die Entschuldung der Ukraine

Avatar-Foto Kristina Rehbein, erlassjahr.de
2. Dezember 2024

Die Schuldensituation der Ukraine war diesen Sommer trotz andauernden Krieges großes Thema in der Fachöffentlichkeit. Denn im August lief das zweijährige Schuldenmoratorium der privaten Vorkriegsanleger aus. Die Anleger gewährten 2022 das Moratorium unter der Annahme, dass der Krieg rasch vorbei sei und die Ukraine dann ihre Schuldendienstzahlungen wieder regulär aufnehmen könne – ein Irrtum. Im Sommer wurde daher eine (aus Sicht von erlassjahr.de unzureichende) Schuldenrestrukturierung mit den privaten Vorkriegsanlegern ausgehandelt.   

Nach Kriegsende wird das Land aber nicht nur bei privaten Vorkriegsanlegern verschuldet sein. Nach Berechnungen des IWF wird die Ukraine im Laufe der nächsten Jahre mit rund 100 Prozent seines BIPs verschuldet sein, sowohl weiterhin bei den privaten Vorkriegsgläubigern, wie auch bei öffentlichen bilateralen und vor allem multilateralen Gläubigern. Gleichzeitig gibt es schon jetzt einen enormen Finanzierungsbedarf für den Wiederaufbau. Wiederaufbau und Schuldenrückzahlung stehen damit in Konflikt. Gleichzeitig eignen sich derzeitige Verfahren zur Schuldenrestrukturierung nicht, um die finanzielle und politische Komplexität einer Nation, die sich von einem bewaffneten Konflikt erholt, zu bewältigen.

Wie kann sich die Ukraine in einem solchen Kontext langfristig sozial und wirtschaftlich gerecht erholen? Wir argumentieren, dass es dafür eine besondere Lösung braucht, die mit den bestehenden Verfahren zur Schuldenrestrukturierung nicht zu erreichen ist.

In Bezug auf ihre Schuldensituation ist die Ukraine kein Einzelfall. In der jüngeren Geschichte wurden außergewöhnliche Lösungen für Schuldenkrisen nach kriegerischen Konflikten gefunden. Die historischen Exempel können als eine Inspirationsquelle für eine Schuldenrestrukturierung in einem Nachkriegskontext dienen.

Wir haben uns in unserer Studie „Dealing with Ukraine’s sovereign debt situation after the war – What historical precedents can tell us for the design of a special debt resolution“ vier solcher historischen Länderfälle mit besonderen Schuldenlösungen angesehen, die für einen Neustart nach dem Krieg interessant sind:

  • Der 50-prozentige Schuldenerlass für die westdeutschen Vor- und Nachkriegsschulden im Londoner Schuldenabkommen von 1953
  • Die Halbierung der Auslandsschulden Indonesiens im Jahr 1969, als nach dem Militärputsch von 1965 die Hälfte der Schulden bei der Sowjetunion und ihren Verbündeten und die andere Hälfte bei hauptsächlich westlichen Gläubigern im Pariser Club lag
  • Die Halbierung der polnischen Auslandsschulden im Jahr 1991 nach dem Ende des Militärregimes
  • Der 80-prozentige Erlass der Altschulden des Iraks nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Jahr 2004

Natürlich ist keine dieser Episoden identisch mit der Schuldensituation, mit der eine Nachkriegs-Ukraine konfrontiert sein könnte, und kann daher nicht als Blaupause genutzt werden. Nichtsdestoweniger identifiziert die Studie Elemente, Argumente, Kriterien und Verfahrensschritte, aus denen Lehren für eine nachhaltige, wirtschaftliche Erholung der Ukraine gezogen werden können.

Zu diesen Lehren zählen u.a.:

  • Londoner Schuldenabkommen 1953:
    Priorität auf langfristige Kooperation statt Maximierung von Gläubigerforderungen: Zentrale Gläubiger legten mehr Wert auf die langfristige friedliche Koexistenz und wirtschaftliche Integration Deutschlands als auf enge Gläubigerinteressen. Diese Haltung ermöglichte eine schnelle und effektive Lösung, die den Wiederaufbau Deutschlands beschleunigte.
    Elemente, die eine langfristig nachhaltige Lösung garantierten: Aussetzung des Schuldendienstes, wenn Deutschland keinen Handelsüberschuss mit dem jeweiligen Gläubiger erzielte, ein unabhängiges Schiedsverfahren für Konfliktfälle. Deutschlands Schuldendienstquote überschritt zudem nie 3,5 % der jährlichen Exporterlöse. Für die Ukraine könnte bei der Berechnung des Schuldenerlasses solch niedrige Kennzahlen herangezogen werden.
  • Indonesiens Schuldenerlass 1969:
    Neutrale Vermittlung: Ein unabhängiger Mediator spielte eine entscheidende Rolle, indem er einen für alle Gläubiger akzeptablen Vorschlag entwickelte. Diese neutrale Vermittlung sorgte für ein langfristig tragfähiges Ergebnis, da sie Konflikte zwischen Gläubigergruppen entschärfte und einseitige Profitinteressen minimierte.
    Schuldnerschutz: Indonesien profitierte von einer contingency clause, die es erlaubte, Zahlungen je nach wirtschaftlicher Entwicklung anzupassen – sowohl bei positivem, aber eben auch bei negativem Verlauf. Zusätzlich wurde ein niedriger Schuldendienst von nur 5–6 % der Einnahmen angesetzt, um die Rückzahlungsfähigkeit mit langfristigem Wiederaufbau zusammenzubringen.
  • Polens Umschuldung 1991:
    Vermeidung halbherziger Lösungen durch politischen Druck: Die albtraumhaften Erfahrungen mit zu geringen Pariser-Club-Umschuldungen in Polen während der 1980er-Jahre führten zu einem klaren Verständnis dafür, dass tiefgreifende Schuldenerlasse unvermeidbar sind. Der politische Druck der Bush-Administration trug dazu bei, diese umfassenden Entschuldungsmaßnahmen trotz Widerstand durchzusetzen.
    Gleichbehandlung als Schlüssel: Ein zentraler Erfolgsfaktor war das strikte Prinzip der Gleichbehandlung aller Gläubiger.
  • Iraks Schuldenerlass 2004:
    Schutz von Ressourcen und Vermögenswerten: Die Immunisierung von Iraks Öl-Ressourcen durch die UN-Sicherheitsratsresolution 1483 schützte das Land vor unhaltbaren Forderungen und Ressourcenabfluss während und nach dem Restrukturierungsprozess. Obwohl eine ähnliche Resolution für die Ukraine aufgrund geopolitischer Hürden weniger realistisch ist, könnten nationale Gesetze oder Exekutivmaßnahmen eine vergleichbare Schutzwirkung entfalten.        
    Atempause durch Moratorium und konsequente Gleichbehandlung: Ein umfassendes Schuldenmoratorium verschaffte dem Land den nötigen Spielraum für Verhandlungen und erhöhte den Druck auf Gläubiger, einer Einigung zuzustimmen. Zudem zeigt die strikte Gleichbehandlung aller Ansprüche an den Irak, dass ein kohärenter und einheitlicher Ansatz, trotz verschiedener Interessen der Gläubigergruppen, zu einem nachhaltigeren und gerechteren Ergebnis führt.

Ob sich die Ukraine wirtschaftlich erholen wird, entscheidet sich je nachdem wie innovativ mit der Schuldensituation der Ukraine umgegangen wird.

Während eine außergewöhnliche Lösung für die Verschuldung der Ukraine im Zentrum stehen muss, könnte eine solche Lösung auch zu allgemeineren Reformen inspirieren, die die Machtungleichgewichte zwischen Schuldnern und Gläubigern ein Stück weit überwinden könnten. Im Vergleich zum Status quo würde dies die Chancen für andere hochverschuldete Länder – einschließlich, aber nicht ausschließlich solcher in Konfliktsituationen – erhöhen, ihre Schuldentragfähigkeit nachhaltig wiederherzustellen.

Die 56-seitige Studie kann hier heruntergeladen werden.

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