Tokio Tagebuch I: 9. Oktober: Verdächtig harmonisch alles hier

In dieser Woche findet in Tokio die Jahrestagung von IWF und Weltbank statt, und für erlassjahr.de und unsere Partner im EED bin ich mit einem Roundtable-Gespräch am Donnerstag Nachmittag dabei. 

Für ein absolutes Tokio-Greenhorn bin ich ganz gut angekommen. Flug mit SAS, die keine Durchsage ungenutzt ließ, um darauf hinzuweisen, dass sie Europas pünktlichste Airline sei; und tatsächlich: auf die Minute heute morgen um halb zehn betrat ich zum erst Mal in meinem Leben japanischen Boden.

Wenn man keinen Zeitstress hat, und die 60km vom Flughafen in die Mitte der großen Stadt im Shinkansen-Tempo zurücklegen muss, dann macht es sogar Spass, die kleinen lateinischen Unterzeilen unter den japanischen Metro-, U- und S-Bahn-Informationen zu identifizieren und in die richtige Bahn nicht nur ein-, sondern an der richtigen Stelle auch wieder auszusteigen.

Zur Mittagszeit hatte mir der höflich lächelnde Mensch in der Rezeption des Hotels, das unten so aussieht, als müssten aber spätestens morgen die Handwerker kommen, für den Rest der Woche knapp 60.000 Yen abgeknöpft. Oben war es dann sehr gepflegt: ein Riesen-Bett in einem Zimmerchen, von dem ich sicher bin, dass seine Grundfläche kleiner ist als die des Bettes. Internet-Zugang dafür einwandfrei, überall kleine Fläschchen mit Duftwässerchen, Pomaden, Seifen und bei manchen weiss ich auch nicht genau. Der Lokus hat einen Knopf, bei dessen Betätigung einem der Hintern abgespült wird. Ein echter Überraschungseffekt – besonders, wenn man irrtümlich in Richtung “kalt” dreht.

Bei der Registrierung stelle wurde ich dann mit einem einlass-gewährenden Badge in Quietschrosa ausgestattet. Die Weltbank hat mein Bild seit meiner allerersten Tagung offenbar gespeichert. Sehr schmeichelhaft.

So weit die Rahmenbedingungen. Die Tagung selbst hat vorläufig noch Luft nach oben: Wir NROs hätten gerne beim Treffen der Commonwealth-Finanzminister zum Thema “Schuldenprobleme in Kleinen Verwundbaren Ökonomien” zugehört, aber rosa Schilder wurden nicht zugelassen. Dafür überschüttet uns das NRO-Liaison-Büro der Weltbank mit Aufmerksamkeiten: Ungefragt bekamen wir für unser FTAP-Side-Event am Donnerstag eine japanische Simultanübersetzung. Wie alle registrierten Teilnehmer, bekam ich wieder mal eine schicke Konferenztasche – mit der jeder zweite Mensch durch den Glaspalast des Tokyo International Forum wandert. Und an fast jeder Ecke des Palastes steht entweder ein Polizist in Habachtstellung oder eine hübsche junge Japanerin, die hofft, dass man sie anspricht, um sie nach dem Weg nach irgendwo zu fragen.

Da wir beim Commonwealth nichts ausrichten konnten, haben wir, die Kolleginnen von SLUG aus Norwegen, EURODAD und ich, uns in die Begegnungsveranstaltung der Zivilgesellschaft mit den Exekutivdirektoren der Weltbank gesetzt. Das war grauenhaft: Ein gut besuchter riesiger Saal, zwei Stunden Frage und Antworten, und

Sieht öde aus und war es auch: Weltbank trifft Zivilgesellschaft / © erlassjahr.de

von den Inhalten her war es unmöglich zu entscheiden, wer Frager und wer Antworter ist. Alle betonten in einer Tour, wie wichtig die Zivilgesellschaft für die Arbeit der Weltbank sei, wie dankbar die Banker sind, dass wir alle da sind; für mehr Gerechtigkeit für Frauen sind wir aber so was von alle, Partizipation – ja aber claro. Viel mehr mit der Weltbank reden sollen wir – noch mehr als wir das verdienstvollerweise ohnehin schon tun. Ich glaube, es gab in 90 Minuten nicht eine einzige Wortmeldung, bei der NGOs und Welt-Banker unterschiedlicher Meinung waren. Sind wir bei erlassjahr.de womöglich genauso und merken es nicht?

Vor dem Abendessen und Einschlafen kommt dann zum Glück noch eine Mail von einem mir bislang nicht bekannten japanischen Anti-IWF-Bündnis. Morgen ist eine Demo: Wenn ich es richtig verstehe, beginnt sie in der U-Bahn. Hoffentlich schaffe ich das morgen zwischen zwei Seminaren….

Muss man nicht unbedingt gelesen haben: "Schulden die ersten 5000 Jahre" von David Graeber

Nein, Graebers Buch stellt die Welt des Kapitalismus nicht auf den Kopf. Es bietet der oder dem Interessierten (und nur dem Interessierten, weil jeder andere beim Rumsurfen in der Geschichte schon bald Schwierigkeiten hätte, festzustellen, welcher Baum gerade jetzt wieder den Blick auf den Wald verdeckt) Leser eine ebenso anstrengende wie interessante Wanderung durch die Wirtschaftsgeschichte. Dabei haben es dem Autor die Frühzeit und das frühe Altertum in besonderer Weise angetan, was aus unserer Sicht prima ist, denn das biblische Erlassjahr spielt häufig implizit und an prominenter Stelle auch mal explizit bei Graeber eine große Rolle.

Ein paar Dinge kann auch ein erlassjahr-Aktivist noch aus diesen historischen Wanderungen mitnehmen: Dass das erlassjahr-Konzept nicht nur im Alten Testament vorkommt, sondern auch in der Sumerischen und der Babylonischen Geschichte auftaucht. Oder eine große Zahl von Quellen, die zeigen, dass das biblische Erlaßjahr durchaus nicht nur Theorie geblieben ist, sondern im alten Israel auch umgesetzt wurde (Kap. 4, fn 19). Entsprechend und sympathisch ist der einzige handlungsorientierte Vorschlag den der Autor ganz am Ende des Werkes zum besseren Umgang mit dem Problem von Überschuldung macht, der, dass es so etwas wie ein biblisches Erlaßjahr geben sollte. Das ist nett formuliert, in Zeiten, wo der Bundesfinanzminister schon mal auf dem Katholikentag erklärt, ein Erlaßjahr könne ja wohl keine Lösung für Europas Schuldenkrise sein. Wie das Erlaßjahr für die sehr unterschiedlichen Arten von Schuldner-Gläubiger-Beziehungen tatsächlich aussehen sollte, verrät Graeber uns allerdings nicht.

Was bei all diesen interessanten Details das Werk fragwürdig macht, ist dass der Autor Kapital wie Geld auf einem großen Haufen zu betrachten scheint. Wird etwas davon verliehen, scheint es keinen Unterschied zu machen, wofür: Konsumentenkredite, Investive Kredite, Nothilfe-Kredite, Staatsanleihen und andere Budget-Finanzierungen. Dass gerade für eine moralisch-ethische Beurteilung der Berechtigung von Gläubiger-Ansprüchen es tatsächlich einen Unterschied macht, ob ein Kredit zur freundschaftlichen Finanzierung einer Luxus-Anschaffung, zur Hilfe in großer Not oder zur Erzielung eines Profits gegeben wurde, übersieht er 400 Seiten lang. In diesem Sinne ist das Buch auf eine ärgerliche Weise unpolitisch.

Mit der Katholischen Soziallehre gegen die Dominanz der Gläubiger: Überschuldete Paradiese in der Karibik

Engagierte Laien und Theologen, Politiker und Aktivist/innen trafen sich Anfang September zu zwei Seminaren in Dominica und St.Lucia. Beide Inseln gehören zu den “Small Island Developing States” (SIDS), die, zusammen mit Ländern wie Griechenland, weltweit die höchsten Schuldenindikatoren aufweisen. Weil diese Staaten aber sehr klein sind und (deutlich) weniger als eine halbe Million Einwohner haben, nimmt von ihren Problemen kaum jemand Notiz.

Das könnte sich jetzt ändern. Außer aus den beiden genannten Inseln waren auch Vertreter/innen der Kirche und der Regierung aus Grenada, Antigua & Barbuda sowie Anguilla bei den Seminaren. Es ging einerseits um die beängstigenden Schuldenindikatoren der Inseln auch dem Hintergrund ihrer dramatischen Verletzlichkeit für “externe Schocks”. Einer der letzten großen Hurrikans hatte in Grenada beispielsweise das Sozialprodukt von zwei Jahren an Schäden hinterlassen. Aber es ging auch um die frohe Botschaft des biblischen Erlassjahres: Dass Gläubigerrechte real aber nicht sakrosankt sind. Dass die Kirche im Konflikt die Menschenwürde der Armen vor die Ansprüche der Gläubiger stellen muss. Und auch, dass auf den stark katholisch geprägten Inseln das Wort der Bischöfe und Laienräte es nicht weit bis in die Regierungszentralen und Ministerien hat (in Dominica z.B. der sprichwörtliche Steinwurf).

Engagierte Diskussion der Delegation aus Antigua: Links vom Tisch der Regierung, rechts die Zivilgesellschaft / © erlassjahr.de

Zwei Tage lang stellten sich die insgesamt rund 85 Teilnehmer/innen der beiden Seminar den Fragen nach einer angemessenen Antwort der Kirche und der gesamten Zivilgesellschaft. Entstanden sind daraus ein kleines Netzwerk mit Ansprechpartnern auf jeder der Inseln, und eine große Herausforderung für diejenigen, die an der Basis die Katholische Soziallehre in praktische Schritte übersetzen wollen.

erlassjahr.de war als Referent an beiden Seminaren beteiligt. Finanziert wurden sie vom deutschen Hilfswerk Adveniat – seit langem ein Partner der Kirche in der Region.

Inzwischen haben auch andere Kampagnen und Netzwerke die Herausforderung durch die Überschuldung der kleinen Inseln ausgenommen: im Katholischen Irland ebenso wie in den für die Region wichtigen Gläubigerländern USA und Kanada.

Die Länderprofile der genannten Staaten sowie Jamaika’s und von St.Vincent & the Grenadines stehen auf der erlassjahr.de-Länderinfo-Seite.

Der IWF und seine kleinen unbedeutenden Kunden. Heute: Burundi

Zuletzt hatten wir im Fall Gambia gesehen, wie der IWF mit kleinen, praktisch einflusslosen Ländern umgeht, die von seinen Finanzierungen abhängig sind. Auch Burundi ist diesbezüglich ein interessanter Fall, den wir uns schon öfter angesehen haben. Die letzte Article IV-Konsultation mit dem kleinen ostafrikanischen Land, hat noch einmal unterstrichen, was wir alle seit der unzureichenden Entschuldung unter HIPC/MDRI längst wissen: Das Land ist “hoch gefährdet”, erneut in die Überschuldung zu geraten. Deswegen gibt es in Sachen neuer Kreditaufnahme nur eines: “In this context, continued reliance on grants and highly concessional loans remains a priority.

Nun wäre es schön, wenn der IWF sich selbst an diese, seine Vorgaben auch hielte.

Das tut er aber nicht. Vielmehr hat der Vorstand des IWF zusammen mit dem der Weltbank einem nicht ausreichend konzessionären Kredit für einen von Indien zu bauenden und zu (ko-)finanzierenden Staudamm im Wert von 80 Millionen US-$ ausdrücklich zugestimmt.

Unsere Anfragen, warum dies geschah, was an dem Staudamm so toll ist, dass man vorsichtigste Kreditaufnahme zwar anmahnt, aber ansonsten ignoriert, blieben sowohl aus dem BMZ (Verantwortung für die Weltbank) als auch aus dem BMF und der Bundesbank (Verantwortung für den IWF) bislang unbeantwortet.

Da wir uns überhaupt gar nicht vorstellen können, dass bei der Finanzierungs-Entscheidung vielleicht unkoschere Dinge passiert sein könnten, ein indischer Financier womöglich Druck ausgeübt hat, haben wir angenommen, dass vielleicht die Situation Burundi’s etwas weniger dramatisch sei als wir bislang angenommen hatten. Vielleicht verbessern sich die Schuldenindikatoren ja bereits, so dass Spielräume für nützliche Infrastrukturinvestitionen entstanden sind.

Nun ja…

Anfang August publizierte der Fonds seine eigene Vorhersage für den Schuldendienst des Landes im Verhältnis zu den jährlichen Exporteinnahmen.

Zur Erinnerung: Bei 10% liegt aktuell für Burundi die Untragbarkeitsgrenze gemäß des Debt Sustainability Frameworks von IWF/WB. Und unter 5% liegt derzeit der Schnitt aller entlasteten HIPCs – gleichzeitig übrigens wie auch das, was erlassjahr.de und andere unabhängige Beobachter für ein so fragiles Land für einen tragbaren Schuldendienst halten.

Schuldentragfähigkeit in einem kleinen Land. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott des IWF nicht zu sorgen.

Im vergangenen Jahr hatte eine Schuldentragfähigkeitsanalyse des IWF einen vollkommen unzureichenden Schuldenerlass für Griechenland als ausreichend legitimiert. In diesen Tagen erleben wir, wie sich alle Annahmen des Fonds und seiner Troika-Kollegen in Luft auflösen, und Griechenland nach dem “Schuldenerlass” wieder zum heißen Kandidaten für eine Staatspleite wird.

Es fällt schwer, zu schrieben, dass die Griechen eigentlich noch gut davon gekommen sind. Aber so ist es. Wie der IWF mit ärmeren und weniger spektakulären Schuldenern umgeht zeigt die jüngste Tragfähigkeitsanalyse für das kleine westafrikanische Gambia:

Das Land war 2007 unter der HIPC/MDRI-Initiative entschuldet worden, hatte aber die danach im Rahmen des Debt Sustainability Framework vom IWF definierte Tragfähigkeitsgrenze von 100% Barwert der Gesamtverschuldung im Verhältnis zu den jährlichen Exporteinnahmen niemals erreicht. Bis 2012 kletterte die Verschuldung wiederum auf 199%, um danach kontinuierlich abzunehmen. Die Indikatoren nehmen immer ab in den Vorhersagen des IWF, weil in dessen Modellrechnungen Länder sich an die unfehlbar segensreichen Vorgaben des Fonds minutiös halten werden, und überhaupt alles besser wird.

In der Wirklichkeit ist bislang noch niemals alles besser geworden, und der Fonds würde große Schwierigkeiten haben, ein einziges Land zu finden, für dessen Schuldenstand heute die Vorhersagen von – sagen wir mal – 2007 der Realität entsprechen.

Immerhin räumen die Rechenkünstler aus Washington ein, dass nach dem Baseline-Szenario Gambia’s Auslandsschulden bis zum Ende des doch recht langen Vorhersage-Zeitraums im Jahr 2031 nicht auf das tragfähige Niveau von 100% fallen werden.

Allerdings – und da wird es dann wirklich lustig – weist eine kleine Fussnote auf S.5 des Dokuments darauf hin, dass nach 2031 ein wirklich tragfähiges Niveau erreicht sein wird.

Also, liebe Gambier: Haltet einfach noch schlappe 19 Jahre durch, lasst Euch nicht dadurch entmutigen, dass der eine fehlende Streichung dieser untragbaren Schulden nach einer vom IWF veröffentlichten Studie Euch noch knapp zwei verlorene Entwicklungsjahrzehnte mit schwachem Wachstum infolge eines übermäßigen Schuldendienstes einbringen wird. Am Ende wird die Sonne über Euch aufgehen.

Sofern Ihr dann noch lebt.

"Eine Lösung, die keine ist"

Unter diesem Titel ist in der FTD vom 2.7. ein sehr lesenswerter Leitartikel von Oliver Holtemöller und Tobias Knedlik vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle-Wittenberg erschienen. Die Autoren beschreiben sehr eindrücklich, wie die “Trippelschritte” des (deutschen) Managements der Eurokrise nicht zu deren Lösung, sondern zu ihrer Verteuerung beitragen. Dass die Organisierung einer geregelten Staateninsolvenz in der Eurozone von der Politik versäumt wurde, bezeichnen sie als den “ersten und wichtigsten Fehler der Krisenpolitik”.

Die Argumentation der Hallenser Wirtschaftswissenschaftler deckt sich mit dem Ergebnis der Modellrechnung von erlassjahr.de. Darin hatten wir gezeigt, dass der gleiche Schuldenschnitt, der Ende 2011 für Griechenland gewährt wurde, 18 Monate früher das Potenzial gehabt hätte, Griechenlands Verschuldung im Verhältnis zum BIP in die Größenordnung von 80% zu bringen – also etwa dahin, wo Deutschland heute steht.

Die Entscheidung, die Krise zu finanzieren statt sie zu lösen, hat alle Beteiligten in eine schlechtere Lage gebracht – mit Ausnahme derjenigen Privatinvestoren, die es seither geschafft haben, sich aus Griechenland zurückzuziehen.

"Allianz gegen den ESM"

Einiges von dem, was die Bundesregierung 2010 mal ziemlich ungeschickt als Vorschlag für eine geordnete Insolvenz von Staaten in der Eurozone eingebracht hatte, findet sich jetzt  in den Positionen der so genannten Euro-Rebellen. Die 10 Koalitionsabgeordneten, die sich der ESM-Vorlage der Kanzlerin verweigern, haben ein Zehn-Punkte-Papier vorgelegt. Darin steht eine Menge Vernünftiges.

Aus unserer Sicht zentral sind die Punkte (2), (4) und (5), in denen die Initiatoren sich klar gegen die Bail-out-Politik der Bundesregierung zugunsten der Privatinvestoren aussprechen. Statt dessen fordern sie die Schaffung eines geordneten Insolvenzmechanismus für Staaten (“Europäischer Umschuldungsmechanismus” – EUM), durch den diese sich von dem untragbaren Teil ihrer Schulden zu Lasten der Investoren befreien können.

Mit dieser Haltung sind die Initiatoren der “Allianz gegen den ESM” deutlich näher am schwarz-gelben Koalitionsvertrag als die Mehrheit ihrer Fraktionen.

Griechenland nach den Wahlen: Die Populisten haben gewonnen

Nach dem knappen, aber durch das Wahlrecht etwas “ausgebauten” Sieg der Konservativen bei der Parlamentswahl in Griechenland, ging ein Aufatmen durch die deutschen und die internationalen Medien. Eine Pro-Euro-Koalition habe gegen die “Populisten” von Syriza gewonnen, Griechenland bleibe auf (Spar-)Kurs, heisst es. Und da wird es schon sehr unappetitlich.

Denn deutsche Medien – bis hin zur ansonsten seriösen Financial Times Deutschland – hatten Syriza als eine Partei dargestellt, die das hochverschuldete Land aus dem Euro herausführen würde. Das war in jeder Beziehung Unsinn. Ökonomisch gäbe es für Griechenland durch einen Austritt viel zu verlieren (nicht zuletzt gewaltige Kosten einer Währungsumstellung selbst), aber wenig zu gewinnen. Politisch könnte niemand auf der Grundlage der existierenden Verträge dem Land den Euro “wegnehmen” wie einem unbotsamen Kind das Spielzeug. Genau dies wurde von den Medien aber anhaltend nahegelegt. Und schließlich hatte Syriza, zuletzt mit einem Kommentar ihres Chefs Alexis Tsipras in der FTD selbst, deutlich gemacht, dass man keinesfalls die Absicht habe, den Euro aufzugeben. Was, um alles in der Welt hätte der Mann denn noch tun müssen, damit ihm geglaubt wird??

Die Griechen waren haarscharf davor, einen keineswegs einfachen, aber verheißungsvollen Neustart zu schaffen. Syriza hatte die Forderung nach einer Schuldenkonferenz erhoben, bei der die Tragfähigkeit der Auslandsschulden überprüft werden und gegebenenfalls eine ausreichende Restrukturierung auf den Weg gebracht werden sollte. Nach gut zwei Jahren Insolvenzverschleppung und einem Schuldenschnitt von dem jeder weiss, dass er nicht ausreichen wird, wäre das endlich eine Alternative zum Weiterwursteln zwischen den Alten Eliten von ND, PASOK und Co. und ihren freundlichen Gläubigern in Berlin und Brüssel.

Selbst der IWF geht davon aus, dass im besten aller Fälle Griechenlands Schulden mit den bisherigen Massnahmen auf 120% – wahrscheinlicher: 129% – des BIP bis 2020 reduziert werden können. Wichtige Privatgläubiger halten heute einen zweiten Schuldenschnitt für unvermeidlich, bei dem nicht nur die ursprünglichen privaten Forderungen, sondern auch die aus den öffentlichen Rettungspaketen zur Disposition stehen müssen. In der Tradition ihrer Politik seit dem Krisenausbruch 2009 haben die Altparteien in Griechenland, die Bundesregierung, die EU und die Mainline-Medien so getan, als gäbe es diese Bedrohung gar nicht, und der wählenden Bevölkerung vorgegaukelt, wenn sie die Finger nur von den erschröcklichen Linksradikalen ließen, würde schon alles gut werden.

Das nennt man Populismus. Es ist unverantwortlich. Und damit sind sie (vorerst) durchgekommen.

Ach Schäuble….

Auf einem Podium Katholikentag in Mannheim erklärte der Bundesfinanzminister, “ein Erlassjahr sei kein Mittel gegen die Schuldenkrise”. Der grüne Finanzpolitiker Gerhard Schick hatte den Gedanken eines Erlassjahres in die Diskussion gebracht.

Nun ist es nicht überraschend, dass ein Finanzminister sich mit dem Gedanken eines Schuldenerlasses schwer tut. Überraschend ist die von Schäuble nachgeschobene Begründung: “Ein Erlassjahr bedeute Geldentwertung und Währungsreform”. Ob das Volk Israel ein Erlassjahr, wie das Alte Testament es beschreibt, je praktiziert hat, ist unter Theologen und Historikern umstritten. Falls es das gab, war es auf keinen Fall mit Geldentwertung und Währungsreform verbunden.

Das gleiche gilt für das, was erlassjahr.de als dem Spätkapitalismus gemäße Form eines Erlassjahr’s vorschlägt: nämlich ein geregeltes Staateninsolvenzverfahren. Das steht – nebenbei bemerkt – als politische Forderung auch im Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Bundesregierung, dem Herr Schäuble sich eigentlich verpflichtet fühlen müsste.

Rational ist die Reaktion des Ministers auf Gerhard Schick’s Anregung mithin nicht zu verstehen. Was vielmehr daraus zu sprechen scheint, ist die offenbar unausrottbare Annahme, Staaten könnten, sollten, dürften nicht pleite gehen. Auf ungefähr halber Strecke zwischen einem verspäteten und für Griechenland unzureichenden Schuldenerlass und der ungeregelten Staatspleite des Landes nach den Wahlen im nächsten Juni, weist der deutsche Finanzminister das zurück, was eine zeitige und wirksame Bekämpfung der Krise in der Eurozone ermöglicht hätte: Im Frühjahr 2010, als Griechenland sich im Prinzip für zahlungsunfähig erklärte, hätte ein geregeltes Verfahren für einen schnellen, geordneten und ausreichend tiefen Schuldenschnitt zumindest die Chance geboten, die Krise in einem frühen Stadium zu beenden. Nach einer Berechnung von erlassjahr.de wäre Griechenland durch den gleichen Schuldenerlass der Privatgläubiger in Höhe von 109 Mrd. €, wie er im Februar 2012 beschlossen wurde, größenordnungsmäßig bei einem Schuldenstand von 82% angekommen. Immer noch keine unproblematische Größenordnung, aber mit der um zwei Jahre verschleppten Regelung erreicht Griechenland nach Berechnung des IWF im besten Falle 129% – und zwar im Jahr 2020.

Es ist tragisch, dass einer der wichtigsten Akteure in der Eurokrise die Chance verspielt, in die nächste Krise nicht ebenso unvorbereitet zu stolpern wie in die noch andauernde.

Calderón entschärft die Schuldenkrise

Ein bemerkenswertes Statement gab es beim Weltwirtschaftsforum in Davos vom amtierenden G20-Vorsitzenden, dem Mexikanischen Präsidenten Felipe Calderón. Die Financial Times Deutschland (31.1.2012) zitiert ihn mit den Worten: “Die Zeitbombe tickt in Europa. Wir sind dabei, sie zu entschärfen, bevor sie explodiert.”

Logo Entschärft die Schuldenkrise Weltkugel mit Zündschnur

Wer nun hoffnungsvoll an unser Kampagnenlogo denkt, und vielleicht sogar wünscht , der Präsident habe damit sagen wollen, dass die G20 sich um einen dauerhaften Krisenlösungsmechanismus  – zunächst für Europa, und dann für alle – bemühen werden, wird zunächst enttäuscht: Calderón meinte den Satz lediglich als Lob für die Bemühungen der Europäer, die Krise unseres Kontinents mit Bergen von frischem Geld zuzuschütten. Natürlich kann man eine Bombe nicht dadurch entschärfen, dass man sie unter Bergen von Papier begräbt. Man erreicht lediglich, dass das Papier nach der Explosion in alle Winde zerstreut wird.