Länderschwerpunkt Ukraine: Schuldenerlass für den Neustart nach dem Krieg

Schon lange war die Ukraine ein hoch verschuldetes Land. Dann kam der Angriff Russlands im Februar 2022. Dies war ein externer Schock im größtmöglichen Ausmaß, durch den nicht nur ungeheures Leid über die Menschen gebracht wurde. Auch die ukrainische Wirtschaft wurde hart getroffen, zentrale Infrastruktur zerstört und die Lebensgrundlage vieler Menschen in der Ukraine ausgelöscht.

Um sich während des Krieges zu verteidigen und die Funktion des ukrainischen Staates aufrechtzuerhalten, fehlen der Ukraine laut Internationalem Währungsfonds (IWF) zwischen 2024 und dem ersten Halbjahr 2027 knapp 90 Milliarden US-Dollar. Die Ukraine ist daher auf Unterstützung aus dem Ausland angewiesen. Ein Teil der ausländischen Unterstützung kommt in Form von Krediten. Hauptsächlich handelt es sich dabei um Unterstützung von öffentlichen Gebern, also befreundeten Staaten. Ein größerer Teil kommt zudem von multilateralen Gebern, etwa von der Europäischen Kommission oder dem IWF. Innerhalb eines Jahres nach Kriegsbeginn stieg die öffentliche Auslandsverschuldung durch diese Kreditaufnahme um knapp 40 Prozent an.

Schon jetzt ist klar, dass auch nach einem Ende des Krieges die Situation des Staates wirtschaftlich und fiskalisch untragbar sein wird. Die Wiederaufbaukosten in den nächsten zehn Jahren werden von der Weltbank auf mindestens 490 Milliarden US-Dollar geschätzt.

Eine selbstbestimmte Ukraine nach dem Krieg braucht Schuldenerlasse

Unabhängig vom Ausgang des Krieges und dem Zeitpunkt seines Endes lassen sich derzeit zwei Vorhersagen für die Verschuldungssituation in der Nachkriegszeit treffen:

  1. Die Ukraine wird angesichts der massiven Zerstörung nicht in der Lage sein, ihren Schuldendienst ordnungsgemäß und in voller Höhe wieder aufzunehmen. Eine Rückkehr zu „normalen“ Schuldner-Gläubigerbeziehungen wird es nicht geben. Denn die Ukraine wird weder in der Lage sein, die Zahlungsverpflichtungen aus der Vorkriegszeit zu bedienen, noch die während des Krieges gewährten neuen Kredite zurückzuzahlen.
  2. Die derzeitigen Verfahren der internationalen Gemeinschaft zur Lösung von Schuldenkrisen sind für eine angemessene Schuldenregelung der Ukraine nicht ausreichend. Dies gilt insbesondere für die stark gestiegene Verschuldung gegenüber multilateralen Gebern, da diese de facto einen ausgenommenen Gläubigerstatus genießen und aufgrund dessen kaum oder keine Schuldenerlasse gewähren.

Ein selbstbestimmter Wiederaufbau und die wirtschaftliche Erholung eines unabhängigen ukrainischen Staates nach dem Ende des Krieges werden entscheidend davon abhängen, ob die Staatsverschuldung auf ein tragfähiges Niveau gesenkt werden kann und dabei die nötigen Spielräume für die Erholung und den Wiederaufbau mitbedacht werden. Dies können die gängigen Verfahren zur Schuldenrestrukturierung jedoch nicht gewährleisten. Der Fall Ukraine erfordert deshalb ein Neudenken innerhalb der internationalen Schuldenarchitektur.

Schon während des Krieges ist die Frage nach dem Umgang mit der Verschuldung zentral

Doch nicht erst nach dem Krieg, auch jetzt schon spielt die Frage der Entschuldung eine große Rolle. Denn solange der Krieg andauert und mit Blick auf das hohe Finanzierungsdefizit können hohe Schuldendienstzahlungen die Handlungsfähigkeit des Landes stark hindern.

Kurz nach dem Angriff Russlands hatten einige Gläubiger (darunter private Anleger sowie ein Teil der bilateralen öffentlichen Gläubiger u. a. im Pariser Club) auf ihre Vorkriegsforderungen der Ukraine ein Schuldenmoratorium gewährt. Dadurch konnte die Ukraine die Zahlungen an einen Teil seiner Gläubiger erst einmal aussetzen. Die öffentlichen bilateralen Gläubiger entschieden sich rasch dazu, ihr Moratorium bis 2027 zu verlängern, und verpflichteten sich gleichzeitig, danach ihre Forderungen an die Ukraine zu restrukturieren. Doch das Moratorium der privaten Vorkriegsanleger läuft im September 2024 aus. Denn anders als die öffentlichen bilateralen Gläubiger haben die privaten Anleger ihr Moratorium erst einmal nicht verlängert. Ohne eine Regelung muss die Ukraine dann bereits 2024 hohe Schuldendienstzahlungen leisten – Geld, das sie nicht hat. Der IWF verlangt zudem von der Ukraine, dass diese nicht nur mit den öffentlichen bilateralen Gläubigern, sondern auch mit den privaten Anlegern eine umfassende Schuldenrestrukturierung aushandelt. Bisherige Diskussionen zeigen jedoch, dass private Anleger nicht zu hohen Zugeständnissen bereit sind – sondern darauf wetten, dass sie nur geringe Schuldenschnitte zugestehen müssen.

Private Anleger agieren hier ganz ähnlich wie in anderen überschuldeten Ländern: Sie versuchen, ihre Verluste auf Kosten der Schuldentragfähigkeit des Schuldnerlands zu minimieren. Und das obwohl sie ihre Kredite zu hohen Zinsen vergeben haben – und damit für ein Ausfallrisiko bereits entschädigt wurden. Zudem pochen sie darauf, für mögliche (geringe) Schuldenstreichungen ihrerseits zusätzlich entschädigt zu werden: Spezielle Vereinbarungen (ein sogenanntes „value recovery instrument“) sollen dafür sorgen, dass die privaten Anleger von einem zukünftigen wirtschaftlichen Aufschwung des Landes im Kontext des Wiederaufbaus profitieren – obwohl sie dazu gar nicht beitragen.

Diejenigen, die am Ende dafür zahlen, sind die Bürger*innen der Ukraine. Sie werden Opfer eines ineffizienten Systems, in dem es nicht gelingt, Gläubiger verpflichtend und umfassend genug an Schuldenerlassen zu beteiligen.

Forderungen

In den Debatten, die bereits jetzt über den Wiederaufbau der Ukraine geführt werden, kommt die Frage nach dem Umgang mit der Schuldenkrise bisher nur am Rande vor – obwohl die Schuldensituation den Wiederaufbau des Landes massiv behindern wird. erlassjahr.de möchte im Rahmen des Länderschwerpunkts und in Zusammenarbeit mit internationalen Partner*innen darauf hinwirken, dass die Notwendigkeit, sich mit dieser Frage zu beschäftigen, anerkannt und das Thema Entschuldung in die politische Debatte aufgenommen wird. Ein weitreichender und außerordentlicher Schuldenerlass wird am Ende die entscheidende Voraussetzung für die wirtschaftliche Erholung des Landes sein.

Wesentliche Punkte aus Sicht von erlassjahr.de:

  • Solange der Krieg andauert, sollten laufende Schuldendienstzahlungen automatisch ausgesetzt werden. Dies betrifft alle Gläubigergruppen, auch multilaterale Gläubiger, insbesondere im Falle negativer Nettotransfers während des Krieges.
  • Nach dem Krieg muss eine umfassende Regelung der Auslandsschulden gefunden werden, die substantielle Schuldenerlasse beinhalten muss. Dies kann zum Beispiel im Rahmen einer Schuldenkonferenz geschehen, die alle Gläubiger und alle Forderungen einschließt. Diese muss darauf abzielen, eine Lösung zu finden, die die Schuldentragfähigkeit unter Berücksichtigung der nötigen Investitionen für den Wiederaufbau einschließt – zum Beispiel, indem ein niedriger Nachkriegsschuldendienst zugrunde gelegt wird.
  • Parallel sollten sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene regulatorische oder gesetzliche Schritte vorgenommen werden, damit (private) Gläubiger ihre Forderungen nicht vor nationalen Gerichten eintreiben können.

Wichtig ist letztlich auch: Die Überlegungen und Entscheidungen, die spezifisch zur Ukraine getroffen werden, sollten auch Auswirkungen auf globale Strukturreformen und den Umgang mit anderen Länderfällen haben. Denn innovative und fortschrittliche Reformen in der Lösung von Schuldenkrisen sind bislang selten. Umschuldungsprozesse, seien es koordinierte Rahmenwerke oder individuelle Verhandlungen, sind immer noch von allzu engen Gläubigerinteressen geprägt. Eine faire, nachhaltige und auf die Bedürfnisse der Bevölkerung zugeschnittene Lösung für die Verschuldungssituation der Nachkriegs-Ukraine könnte damit eine positive Signalwirkung auch für andere Länderfälle entfalten.

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