Am vergangenen Wochenende (11.-12.06.2021) fand der zweite Teil der erlassjahr.de-Jahrestagung 2021 statt. Auch dieser musste, wie bereits der erste Teil, wegen der immer noch angespannten Corona-Situation ins Internet verlegt werden. Mit Hilfe von Programmen wie Zoom, Nexboard und Gather Town war die Arbeitsatmosphäre jedoch auch online konstruktiv, produktiv und sogar ein bisschen gesellig. Unter dem Titel „Gemeinsam aktiv für faire Entschuldung“ war das Ziel der Tagung, gemeinsam mit den knapp 40 Teilnehmer*innen die aktuelle Verschuldungssituation zu diskutieren, die G7 als politische Akteurin kennenzulernen und zusammen dezentrale, zentrale und pädagogische Aktionen zum G7-Gipfel 2022 in Deutschland zu entwickeln.
Am Freitag startete die Tagung unter der Moderation von Martin Haasler, Mitglied im erlassjahr.de-Lenkungskreis, mit einer Kennenlernrunde, in der wir neben vielen altbekannten Entschuldungs-Aktivist*innen und Vertreter*innen von Mitträgerorganisationen auch mehrere neue Gesichter begrüßen durften. Darauf folgte unter dem Titel „2021 – das Jahr der Staatspleiten?“ ein thematischer Einstieg von Malina Stutz, Politische Referentin bei erlassjahr.de. Die Erwartung aus dem Jahr 2020, auf die schlimmste Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren folge eine ebenso schwere Finanzkrise, die ein Jahr der Staatspleiten hervorrufen würde, habe sich zwar bislang nicht erfüllt. Die Schuldenkrise sei jedoch lediglich mit neuen Schulden überbrückt und in die Zukunft verschoben worden. Die zum Anfang der Coronakrise vielfach geäußerten Warnungen, es handele sich um eine systemische Krise, welche grundlegende Reformen innerhalb des Systems erfordere, seien mit dem Nichteintreffen der erwarteten Finanzkrise und Staatspleitenwelle verstummt. Zur „Lösung“ der Krise sei in der Folge ein Fokus auf neue Kreditaufnahmen gelegt worden, um den Marktzugang der betroffenen Länder vermeintlich nicht zu gefährden. Echte Schuldenerlasse und die Einbeziehung privater Gläubiger seien hintenan gestellt worden. So hätten auch während der Pandemie – trotz des Schuldenmoratoriums der G20 – enorme Summen für den Schuldendienst aufgebracht werden müssen: In mindestens 62 Staaten sei der Auslandsschuldendienst größer gewesen als die Gesundheitsausgaben. Die Rückkehr zum Vor-Krisen-Niveau, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, werde für viele Länder erst 2026 erwartet, weshalb Forderungen nach echten Schuldenerlassen immer lauter würden.
Im Anschluss an diesen Überblick startete eine Interviewrunde mit Advocacy-Experten unter Moderation von Bündnisratsmitglied Andreas Kurschat zum Thema „Die G7 als politische Akteurin: Struktur, Prozesse und Anknüpfungspunkte für uns als Zivilgesellschaft“. Dabei wurde zunächst die Entstehungsgeschichte der „Gruppe der 7“ angeschnitten. Diese geht auf das Jahr 1975 zurück, als sich im Kontext des Zusammenbruchs des Wechselkurssystems von Bretton Woods damals noch sechs Staaten zu einem Gipfel trafen. Der Gipfel war als Forum geplant, um in kleinem Kreis über Finanz- und Währungsfragen zu diskutieren. Gleichzeitig diente er den teilnehmenden Staaten zur Partnersuche für die Verstärkung einzelner politischer Interessen auf internationaler Ebene. Die G7 wurde auch zu einer Gruppe von „Wertepartnern“, die neben den finanzpolitischen zunehmend auch breitere internationale Themen aufgriff. Sowohl G7 als auch G20 haben kein festes Sekretariat. Stattdessen gibt es eine rotierende Präsidentschaft unter den Ländern, welche den jeweiligen Gipfel organisiert und ein Programm entwirft, das im Vorfeld des Gipfels von den sog. „Sherpas“ (Chefunterhändler*innen) der Länder ausgehandelt wird. Beim Gipfel selbst nutzen die Staats- und Regierungschef*innen das Treffen für vertrauliche Unterhaltungen und Absprachen untereinander und verkünden abschließend eine Abschlusserklärung. Am Gipfel der 7 nehmen neben den G7-Staaten auch die EU, der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank teil. Die G7 und die G20 haben abgesehen von Überschneidungen in der Zusammensetzung keine direkte Verbindung zueinander. Anders als die G7 gründete sich die G20 1999 im Kontext der Asienkrise als Diskussionsforum von Staaten mit unterschiedlichen politischen Kulturen. Anders als in der relativ homogen zusammengesetzten G7 ist die Entscheidungsfindung in der G20 durch diese Heterogenität deutlich langwieriger. In Bezug auf Verschuldungsfragen hat die G20 jedoch mit dem neuen Rahmenwerk Common Framework und dem Schuldenmoratorium DSSI die leitende Rolle eingenommen.
Im Verlauf der Diskussionsrunde wurde die Frage aufgeworfen, ob die G7 damit überhaupt eine geeignete Adressatin für die Entschuldungsbewegung sei und was speziell erlassjahr.de tun kann, um Einfluss auf ihre politischen Entscheidungen zu nehmen. Dabei kam die Runde zu dem Schluss, dass die G7 als Ansprechpartnerin immer noch wichtig sei, da in ihrem Rahmen Fragen nach der Verantwortung für den sog. Globalen Norden und Süden diskutiert werden. Die Betonung der G7, sich als Wertegemeinschaft zu verstehen, lasse sich in Bezug auf die Schuldenthematik aufgreifen und als Argument für ein transparentes, zwischen Gläubigern und Schuldnern fair ausgehandeltes Staateninsolvenzverfahren umwandeln. Das Thema müsse über unterschiedliche Kanäle und Ebenen platziert werden. Der Politik müssten zum einen konkrete positive Szenarien und Ideen zur Verwirklichung vorgeschlagen werden; zum anderen müsse zivilgesellschaftlicher Druck auf die Politik aufgebaut werden, indem das Thema in den öffentlichen und politischen Fokus gerückt werde. Zur Organisation einer Kampagne sollte sich die Entschuldungsbewegung mit anderen Organisationen und (Dach-)Verbänden vernetzen, um über eine Verbindung mit anderen Themen (z.B. Klimawandel und Corona) eine breitere Wirkung zu erzielen. Dabei sollten wir uns im Hinblick auf die kommende Bundestagswahl im September 2021 auf mehrere Regierungszusammensetzungen vorbereiten.
Zur Vorbereitung auf den nächsten Tag der Jahrestagung präsentierte Kristina Rehbein, Politische Koordinatorin von erlassjahr.de, Aktionsbeispiele aus den vergangenen Jahren. Neben dem großen Moment der frühen erlassjahr.de-Geschichte, der Erlassjahr2000-Kampagne, stellte Kristina Aktionen zum G20-Gipfel in Frankreich 2011, zum G7-Finanzminster*innentreffen in Dresden 2015 und zum G20-Finanzminister*innentreffen in Baden Baden 2017 vor. Dabei wies Kristina auch auf die grundsätzlichen Herausforderungen und Chancen hin, die bei solchen Aktionen gegeben sind. Das Thema der Staatsverschuldung sei abstrakt und die meiste Zeit nicht im öffentlichen Bewusstsein präsent. Daher brauche es für eine erfolgreiche Mobilisierung ein „katalytisches Element“. Das waren für die deutsche Öffentlichkeit insbesondere die Gipfeltreffen, die in Deutschland stattgefunden haben. Durch die lokale Vernetzung konnte das Thema vor Ort sichtbarer in den Fokus gerückt werden. Gerade die G7- und G20-Finanzminister*innentreffen eigneten sich gut, weil – im Gegensatz zu den thematisch breiteren und mehr beachteten Gipfeltreffen – wenig Themenkonkurrenz bestünde und durch symbolträchtige Bilder im Zusammenspiel mit Fachinformationen eine hohe Mediensichtbarkeit erzielt werden konnte. Aktionsformen, die diese Bilder beförderten, waren in der Vergangenheit zum Beispiel öffentliche Rollenspiele, Plakataktionen, Menschenketten und Gottesdienste. Kristina zeigte in ihrer Präsentation aber auch Beispiele anderer Organisationen, die Projektionen auf sichtbare Flächen, Installationen oder rollenspielartige Formationen zur Visualisierung nutzten.
Zum Abschluss des Tages gab es noch ein informelles Beisammensein mit Hilfe des Programms „Gather Town“. Auf dieser Plattform steuern die Anwesenden einen Computerspiel-ähnlichen Avatar durch einen virtuellen Raum und können sich so in kleinen Räumen zusammenfinden und sich, je nach Belieben, auch wieder entfernen und anderen Gesprächsrunden anschließen – ein erstmals ausprobiertes Tool, das den Teilnehmer*innen durchaus Spaß bereitete.
Der zweite Tag der Jahrestagung begann mit einer Andacht unter Anleitung von Bündnisratsmitglied Klaus Göke. Im Anschluss wurden noch einmal zentrale Fragen und Ergebnisse des ersten Tages besprochen. Darauf folgte die Arbeitsgruppenphase, in der die Teilnehmenden unter dem Titel „Handlungsoptionen für Schuldengerechtigkeit“ sowohl dezentrale als auch zentrale und pädagogische Aktionsideen zum G7-Gipfel 2022 in Deutschland entwickelten und im Anschluss dem Plenum präsentierten. Für das Zusammentragen und Visualisieren der Ergebnisse wurde das Programm Nexboard genutzt, dessen Ergebnisse allen Teilnehmenden online zugänglich gemacht wurden.
Eine Aktionsidee, die in der AG 2 „Aktionen zentral vor Ort und lautstark beim G7-Gipfel“ besonderen Anklang fand, war das Motiv des wild gewordenen Stiers, welcher sinnbildlich für die Finanzwirtschaft stehen soll, Menschen niedertrampelt und auf der Schulter einen Geier als Symbol für die Gläubiger trägt. Auch die Idee einer nachgespielten Videokonferenz, in der die G7 die mächtige Rolle des Hosts einnehmen, wurde für gut befunden. In der AG 3 „Aktionen pädagogisch aufbereitet in der politischen Bildungsarbeit“ wurden Ideen erarbeitet, wie das Thema G7 in Verbindung mit Stimmen und Zitaten zur Schuldenthematik aufgegriffen werden könne. Dabei wurden etwa Formate wie Diskussions-Spaziergänge, Rollenspiele, Collagen und die Entwicklung von Postern diskutiert. In der AG 1 „Aktionen dezentral und niedrigschwellig, online und offline, überall in Deutschland“ wurden neben dem G7-Gipfel weitere Anknüpfungspunkte für das Schuldenthema wie etwa die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 oder der Weltkirchentag 2022 sowie neue Kommunikationskanäle herausgearbeitet.
Das Feedback zum Abschluss der Tagung spiegelte zur Freude des Organisationsteams eine große Zufriedenheit der Teilnehmer*innen wider. In der anschließenden Bündnisratssitzung wurden die Themen der Tagung weiter diskutiert und Pläne für die nächsten Monate geschmiedet.
Wir danken allen Teilnehmern*innen für die rege Beteiligung, die guten Ideen und den offenen Austausch und freuen uns darauf, die entwickelten Ideen gemeinsam im Bündnis umzusetzen! Schon jetzt möchten wir herzlich zur nächsten Mitträgerversammlung und Jahrestagung im März 2022 in Göttingen einladen – dann hoffentlich endlich wieder in Präsenz!
Bericht: Leo Leuschner