„Vor 25 Jahren war hier in Köln auch viel los…“, begann Domdechant Kleine das Mittagsgebet in der Marienkapelle des Kölner Doms. Er erinnerte damit an einen Meilenstein der Entschuldungsbewegung: die „Kölner Kette“ von 1999. Auf der Domplatte und rund um die Kölner Innenstadt, wo sich am 18. Juni 2024 vor allem schottische EM-Fußballfans und andere Tourist*innen tummelten, forderten 25 Jahre zuvor 35 000 Menschen Schuldenstreichungen für kritisch verschuldete Länder.
“Vor 25 Jahren war hier in Köln auch viel los…” (Domdechant Kleine)
Domdechant Kleine wiederholte in seiner Ansprache die Forderungen der Erlaßjahr2000-Kampagne, „die bedingungslose Entschuldung der armen Länder des Globalen Südens und die Einführung nachhaltiger und fairer Verfahren zur Lösung von Schuldenkrisen“. Wie aktuell und dringlich diese Forderungen auch nach 25 Jahren noch sind, verdeutlichten nicht nur der Domdechant, sondern der gesamte Aktionstag von erlassjahr.de, der unter dem Motto „25 Jahre Kölner Kette – 25 Jahre Einsatz für faire Entschuldung“ stand.
Kundgebung vor dem Domforum
Nach dem Mittagsgebet, das vom DOMRADIO live gestreamt wurde, begann der Aktionstag offiziell mit einer Kundgebung vor dem DOMFORUM. Elise Kopper, Referentin Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit von erlassjahr.de, begrüßte die Versammelten und führte sie durch die Veranstaltung, die von verschiedenen eingeladenen Speaker*innen bereichert wurde. Die einzelnen Beiträge machten deutlich, wie divers die Gruppe derer ist, die sich mit Entschuldungsfragen beschäftigen und in welch starkes Netzwerk erlassjahr.de eingebettet ist.
„Staatsschulden müssen wieder ein Thema der sozialen Gerechtigkeit werden.“ (Kristina Rehbein, Politische Koordinatorin bei erlassjahr.de)
Den Anfang machte Kristina Rehbein, Politische Koordinatorin von erlassjahr.de. Sie teilte Statements, die erlassjahr.de von Entschuldungsaktivist*innen aus Ghana, Sambia und Sri Lanka zugesendet worden waren. Einigkeit bestand vor allem in einer Sache: „Auch heute müssen Staatsschulden wieder ein Thema der sozialen Gerechtigkeit, der sozialen Bewegung werden. Die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger können nicht ignoriert werden, wenn sie nur laut genug sind.“
Der Einladung von erlassjahr.de folgte auch Jean Saldanha, die extra aus Brüssel zur Kundgebung anreiste. Die Direktorin von Eurodad, dem europäischen Netzwerk für Schulden und Entwicklung, verdeutlichte die Notwendigkeit eines „gemeinsamen Einsatzes”. Mit Blick auf die im nächsten Jahr anstehende vierte UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Spanien, sagte Jean: „In einer von Konflikten und geopolitischem Konkurrenzkampf zerrissenen Welt besteht für alle Länder, Nord und Süd, Schuldner und Gläubiger, die Chance, auf neutralem Boden eine neue Zukunft der Schuldengerechtigkeit zu gestalten.”
„Geschichte von ihrem Ende her zu denken ist immer gefährlich.” (Serge Palasie, Eine Welt Netz NRW)
Serge Palasie, Fachpromotor für Entwicklungspolitische Bildungsarbeit beim Einen Welt Netz NRW, erinnerte daran, wie Haiti nach seiner schwer erkämpften Unabhängigkeit von Frankreich durch Entschädigungszahlungen an die ehemalige Kolonialmacht in eine wirtschaftliche und ökologische Krise gestützt wurde. Schuldenpolitik sei bis heute eine Fortsetzung kolonialer Ausbeutung und trage zum Fortbestehen kolonialer Rollenzuschreibungen bei. Serge kritisierte außerdem, dass heutige Probleme Haitis oft lediglich als selbstverschuldet dargestellt werden, während die Verantwortung des Westens übersehen wird. „Geschichte von ihrem Ende her zu denken ist immer gefährlich.” Es brauche stattdessen dringend ein Überdenken unfairer Praktiken in der globalen Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Auch Lou und Elaya, die für Debt for Climate Deutschland auf der Kundgebung sprachen, prangerten koloniale Abhängigkeiten und Machtverteilungen an, die in Verschuldung fortbestehen. Es gehe um die Wiedergutmachung für koloniale und ökologische Verbrechen, weshalb Schuldengerechtigkeit und Klimagerechtigkeit zusammengedacht werden müssen: „Die Welt steht in Flammen, schon heute. Und dementsprechend sollten wir auch handeln. Das bedeutet die bedingungslose Streichung der Schulden des Globalen Südens und eine gerechte neue Internationale Wirtschaftsordnung!”
„Die Welt steht in Flammen, schon heute. Und dementsprechend sollten wir auch handeln.” (Lou und Elaya, Debt for Climate Deutschland)
Einen weiteren bereichernden Beitrag lieferte einer, der schon 1999 Teil der Kölner Kette war: Helmut Müller, Pfarrer der Vereinten Evangelischen Mission. Er blickte zurück: „Wir waren keine Finanzexpert*innen, aber davon überzeugt: Es ist Aufgabe von Christinnen und Christen und unseren Kirchen, sich für einen umfassenden Schuldenerlass der Länder des Globalen Südens einzusetzen.“ Heute wie damals brauche es vor allem eines: „Strukturen und Mechanismen, die die Mitwirkung von Gläubigern und Schuldnern und den Dialog zwischen ihnen gewährleisten.”
Malina Stutz, Politische Referentin bei erlassjahr.de, beendete die Kundgebung, indem sie eine Frage stellte, die das Jubiläum der Kölner Kette zu begleiten schien: „25 Jahre Einsatz für faire Entschuldung – ist das nun ein Grund zur Freude oder eher ein Anlass, der uns pessimistisch stimmen muss?“ Ihre Antwort: beides! Es sei beachtlich, was die Entschuldungsbewegung erreicht habe. Gleichzeitig sei es ernüchternd, dass die bereits damals geforderte strukturelle Veränderung auch heute noch nicht erreicht sei. Sie nutzte die Gelegenheit, um die Forderungen von erlassjahr.de direkt an die Bundesregierung zu richten. „Lasst uns die Bundesregierung durch unsere heutige Aktion hier in Köln an ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag erinnern! Lasst uns gemeinsam dafür einsetzen, dass mit Schulden endlich fair verfahren wird!“
„Lasst uns die Bundesregierung an ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag erinnern!” (Malina Stutz, Politische Referentin bei erlassjahr.de)
Musikalisch begleitet wurde die Kundgebung von der deutsch-eritreischen Künstlerin Sarah Tsehaye, die mit ihren berührenden Songs stimmige Zwischentöne setzte. Mit Texten wie „I need to take care of my emotions“ und „Deep down I know to be weak is to be strong“ betonte die Sängerin den Stellenwert von Selbstfürsorge in aktivistischen Kontexten und Kreisen. „Ich möchte hier gerne von der Bühne gehen mit dem Gedanken, dass man diese Arbeit nur machen kann, wenn man auch dafür sorgt, dass man sich wieder auftankt“, leitete Sarah Tsehaye ihren letzten Song ein, der passenderweise „Recharge my soul“ hieß. Und so war die Kundgebung zum 25-jährigen Einsatz für faire Entschuldung nicht nur voller Rückblicke, auf das, was war, und voller Forderungen für das, was sein soll, sondern auch ein Krafttanken, um eine Brücke zwischen beidem zu bauen.
Eine etwas andere Menschenkette
Nach der kraftvollen Kundgebung, die durch starke Reden und wunderbare Musik auch Passant*innen zum Stehenbleiben einlud, war der eigentliche Revival-Moment geplant: die Menschenkette. 35 000 Menschen waren 1999 Teil der Kölner Kette; 2024 waren längst nicht so viele vor Ort. Doch Menschen aus ganz Deutschland hatten im Vorfeld der Aktion die Möglichkeit, Postkarten mit Forderungen an die Bundesregierung zu unterschreiben und nach Düsseldorf in die Geschäftsstelle von erlassjahr.de zu schicken. So wurden die etwa 80 Anwesenden symbolisch unterstützt von weiteren 2000 Menschen, deren Unterschriften in lange Postkartenketten eingeknüpft waren. Mit diesen Ketten sollte nun eine Menschenkette am Kölner Dom gebildet werden.
Leider machte uns an dieser Stelle das Wetter einen Strich durch die Rechnung. Die angesagten Unwetter, die uns bereits den ganzen Vormittag Sorge bereitet hatten, setzten pünktlich zum Ende der Kundgebung ein und erforderten einen spontanen Plan B. Nach einem schnellen Foto im Regen vor dem Kölner Dom, flüchteten sich also alle Anwesenden in das DOMFORUM. Statt einer Menschenkette am Kölner Dom entstanden nun im Foyer des DOMFORUMS andere eindrucksvolle Bilder, die die Menge der eingesendeten Postkarten sichtbar machten. Diese Postkarten werden in einem großen Briefkasten als Teil unserer laufenden Kampagne “Mit Schulden fair verfahren!” an die Bundesregierung übergeben. erlassjahr.de möchte die aktuelle Bundesregierung damit für die verbleibende Legislatur an ihr Versprechen im Koalitionsvertrag, sich für ein Staateninsolvenzverfahren einzusetzen, erinnern.
Abendveranstaltung “Engagement verbindet”
Der dritte und finale Teil des Aktionstags bestand in einer gut besuchten Abendveranstaltung, zu der erlassjahr.de gemeinsam mit dem DOMFORUM einlud. Rainer Tüschenbönner, Leiter vom DOMFORUM und des Katholischen Bildungswerks Köln, verwies in seiner Begrüßung auf die historische Bedeutung seines Hauses für die Erlaßjahr2000-Kampagne. Genau hier fand vor 25 Jahren die zentrale Pressekonferenz statt – sogar die Stühle auf dem Podium seien noch die gleichen wie damals.
Einfühlsam und voller Gespür für die richtigen Fragen führte Moderatorin Christiane Overkamp durch drei Podiumsgespräche mit unterschiedlichen Gästen. Immer mit auf dem Podium: erlassjahr.de-Mitgründer und langjähriger Politischer Koordinator Jürgen Kaiser und Heidemarie Wieczorek-Zeul, die von 1998 bis 2009 deutsche Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung war. Beide können auf 25 Jahre Einsatz für faire Entschuldung zurückblicken.
Gemeinsam mit Kristina Rehbein, heutige Politische Koordinatorin bei erlassjahr.de, sprachen sie über die weltweite Verschuldung damals und heute, die “Big Bangs” der deutschen Entschuldungsbewegung, und darüber, wie sie persönlich zum Schuldenthema kamen – und nicht mehr davon los. In einem zweiten Panel tauschten sich Jürgen Kaiser und Heidemarie Wieczorek-Zeul mit hauptamtlich und ehrenamtlich Engagierten über die Motivation für ihr Engagement für faire Entschuldung aus. Mit auf dem Podium saßen Mara Liebal, hauptamtliche Öffentlichkeits- und Bildungsreferentin bei erlassjahr.de, die ehrenamtlichen Bündnisrat-Mitglieder Leonard Leuschner und Herma Geiss sowie Sigrid Stapel, Referentin für entwicklungspolitische Bildungsarbeit bei Kolping International. Für das letzte Panel des Abends stieß Malina Stutz, Politische Referentin bei erlassjahr.de, hinzu und gab Ausblicke auf die Zukunft der Arbeit des Entschuldungsbündnisses – und die Möglichkeiten, diese Arbeit ehrenamtlich zu unterstützen.
Zum Abschluss richtete Heidemarie Wieczorek-Zeul bestärkende Worte an die Aktivist*innen im Publikum. Es sei wichtig, im politischen Engagement immer wieder neuen Mut zu fassen. Auf einen ersten Mut müsse ein zweiter Mut folgen, ein dritter, ein vierter, manchmal sogar ein fünfter. Nur mit vielen “Muts” könne sich eine Bewegung wie die für faire Entschuldung halten und weiterentwickeln.
Die Redebeiträge unserer Speaker*innen sind hier verlinkt:
Redebeitrag von Kristina Rehbein
Redebeitrag von Jean Saldana
Artikel von Serge Palasie
Redebeitrag von Lou und Elaya
Redebeitrag von Helmut Müller
Redebeitrag von Malina Stutz