31. Mai 2022

Veranstaltungsbericht: „Impending Collapse or sustainable transformation?“

Im Zuge des G7-Finanzminister*innentreffens in Bonn organisierte erlassjahr.de zusammen mit dem Bischöflichen Hilfswerk Misereor und dem Deutschen Institut für Entwicklungspolitik am Donnerstag, dem 19.05.2022, die Fachdiskussion „Impending Collapse or sustainable transformation? The role of the G7 in solving global debt crisis“. Expert*innen aus Nord und Süd, von internationalen Institutionen, der deutschen G7-Präsidentschaft, Regierungen und Zivilgesellschaft sowie Institutionen des Privatsektors kamen zu Wort. Dabei stand vor allem die Rolle der G7-Staaten bei der Lösung der aktuell grassierenden Schuldenkrise im Mittelpunkt. Moderiert wurde die sowohl digital als auch analog in Bonn stattfindende Veranstaltung von Kristina Rehbein, Politische Koordinatorin von erlassjahr.de.

Eröffnet wurde die Diskussion mit einer Keynote Speech von Patricia Miranda (Global Advocacy Director bei LATINDADD, dem Lateinamerikanischen Netzwerk für wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit). Sie wies darauf hin, dass viele Länder in den letzten Jahren aufgrund einer hohen öffentlichen Verschuldung nicht in der Position waren, Investitionen zu tätigen, um die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zu bekämpfen. Häufig priorisierten Länder sogar ihren Schuldendienst bei ausländischen Gläubigern gegenüber notwendigen Sozialausgaben im eigenen Land. Miranda betonte, dass die öffentliche Verschuldung weiter steigen werde. Aus dieser besorgniserregenden Situation ergebe sich eine deutliche Erwartungshaltung an die deutsche G7-Präsidentschaft. Miranda stellte klar, dass das Entschuldungsrahmenwerk Common Framework der G20 nicht ausreiche. Länder des Globalen Südens bräuchten ein internationales Staateninsolvenzverfahren. Sie erinnerte außerdem daran, dass die deutsche Bundesregierung sich sich in ihrem Koalitionsvertrag dazu verpflichte, Schritte dafür einzuleiten.

Thomas Schäkermann (Bundesfinanzministerium, verantwortlich für multilaterale Banken, Schuldenrestrukturierung, Pariser Club) erkannte die Kritik am Common Framework an, sagte jedoch, dass das Common Framework das beste Instrument sei, was es aktuell zur Schuldenrestrukturierung gebe.

Marcello Estevão (Global Director des Bereichs Makroökonomie, Handel und Investition der Weltbankgruppe) griff auf die Frage nach Vorschlägen zur Verbesserung des Common Framework die Tatsache auf, dass bisher erst drei Länder Schuldenrestrukturierungen unter dem Common Framework ersucht hätten. Als Grund dafür sieht er den Umstand, dass kritisch verschuldete Länder befürchteten, ihre Kreditwürdigkeit könnte sich durch ein Ersuch beim Common Framework verschlechtern. Er betonte, dass schnellere Schuldenrestrukturierungen dringend notwendig seien. Anschließend bot er einige Ansätze an, um das Common Framework zu verbessern. Dazu zählt der Vorschlag, private Gläubiger von Beginn an in Restrukturierungsverhandlungen mit einzubeziehen. Derzeit sei es üblich, dass Schuldnerländer zuerst mit offiziellen Gläubigern einen Erlass aushandelten und erst im Anschluss bei ihren privaten Gläubigern unter der „Comparability of Treatment“-Klausel um einen Schuldenerlass in ähnlicher Höhe bäten. Auf die Frage, ob multilaterale Gläubiger ähnlich wie in den 1990er Jahren auch in Zukunft in Schuldenrestrukturierungen einbezogen werden müssten, was, so die Analysen der Weltbank, in den 1990er Jahren der einzige Ausweg aus der damaligen Schuldenkrise gewesen sei, antwortete Estevão, dass die Krise heute noch nicht so dramatisch sei wie in den 1990er Jahren.

  1. E. Dr. Walton Webson (Vorsitzender der Allianz der Kleinen Inselstaaten AOSIS), welcher vor Ort in Bonn war, wies in seinem Beitrag darauf hin, dass die G7-Staaten häufig Entscheidungen träfen, ohne mit den betroffenen Staaten zu sprechen. Er betonte, dass Schuldnerstaaten angehört werden müssten, um eine sinnvolle Lösung zu finden. Er sprach an, dass neben den häufig diskutierten Krisen durch die COVID-19-Pandemie und den Auswirkungen der russischen Invasion in die Ukraine auch die Klimakrise für Inselstaaten eine sehr ernstzunehmende Bedrohung darstelle. Er machte deutlich, dass diese Staaten über liquide Mittel verfügen müssen, um die Auswirkungen der unterschiedlichen Krisen bekämpfen zu können. Abschließend sagte Webson, dass er hoffe, dass Deutschland im Zuge der G7-Präsidentschaft mehr Führung in der Schuldenkrise übernehme und als gutes Beispiel voran gehe.

Dennis Shen (Direktor für Sovereign Ratings bei der europäischen Rating-Agentur Scope Ratings) griff das zuvor genannte Problem der Privatgläubigerbeteiligung auf und stellte im Zuge dessen den von Scope Ratings entwickelten Gegenvorschlag „DSSI+“ vor. Der Vorschlag beschreibt die Problematik, dass das Common Framework nur in Ausnahmefällen Schuldenerlasse vorsehe und außerdem die gleichwertige Beteiligung aller Gläubiger in den aktuellen Verfahren fragwürdig sei. Laut Shen seien für die Sicherstellung des langfristigen Kapitalmarktzugangs keinesfalls weniger, sondern in vielen Ländern sogar mehr Schuldenerlasse nötig. Er betonte, dass die unterschiedliche Behandlung der Gläubiger aktuell ein großes Problem darstellt. Er erwähnte, dass die Geschichte gezeigt habe, dass die freiwillige Beteiligung des Privatsektors nicht funktioniere, und es daher eine verbindliche Beteiligung brauche. Eine Möglichkeit, wirklich alle Gläubiger einzubinden, sei die Einführung einer aggregierten Collective Action Clause.

Als letzter Sprecher trat Prof. James Gatthi (Professor an der Chicago School of Law, Vertreter des African Sovereign Debt Justice Network (AfSDJN)) auf. Er nutzte die Gelegenheit, um auf die deutsche Geschichte aufmerksam zu machen: Nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahr 1953, sei Deutschland ein großer Teil der Schulden erlassen worden. Das habe dabei geholfen, die Grundlage für den deutschen Nachkriegswohlstand zu bilden. Aufbauend auf dieser Erfahrung sollten auch in Ländern des Globalen Südens Schuldenerlasse in der aktuellen Situation eine größere Rolle spielen. Deutschland solle angesichts seiner Geschichte eine stärkere Führungsrolle übernehmen. Nicht hinnehmen wolle er die unterschiedliche Behandlung von Ländern des Globalen Südens, die kaum Zugang zu fairen Schuldenerleichterungen hätten, und einem Land des Globalen Nordens wie Deutschland, welches großzügige Erleichterungen erhielt. Ähnlich wie Webson machte er auf die Machtasymmetrien in der internationalen Finanzarchitektur aufmerksam: Afrikanische Länder seien in Institutionen mit einer zentralen Rolle im Schuldenmanagement, etwa im Internationalen Währungsfonds (IWF), kaum vertreten. Ihre Stimme zähle nur ca. 6 Prozent bei Abstimmungen, obwohl sie ca. 25 Prozent der Mitgliederstaaten ausmachten. Er brachte daher die Forderung von Ländern des Globalen Südens nach einem Staateninsolvenzverfahren unabhängig von IWF und Pariser Club ein. Abschließend thematisierte Gatthi die Rolle Deutschlands: Deutschland könne helfen, das vorherrschende Narrativ, Überschuldung würde ausschließlich durch Misswirtschaft und Korruption entstehen, zu ändern. Außerdem könne Deutschland deutlich machen, dass alle Gläubiger im selben Boot säßen und gemeinsam eine Lösung finden müssten.

Einigen Zuhörer*innen stellte sich die Frage, ob es den G7-Staaten nicht unmittelbar möglich sei, Schritte zu gehen, um das Common Framework zu verbessern, beispielsweise durch die Einführung von nationalen Gesetzen zur verbindlichen Einbeziehung von Privatgläubigern. Schließlich hätten die G7-Staaten in vergangenen Schuldenkrisen etwa private Banken erfolgreich durch regulatorische Maßnahmen zur Beteiligung an Umschuldungen gezwungen. Thomas Schäkermann nutzte die Möglichkeit, um zu betonen, dass Vorschläge von Weltbank und IWF zur Verbesserung des Common Framework zu begrüßen seien. Außerdem seien Weltbank und IWF gefragt worden, die Effektivität von bereits bestehender nationaler Gesetzgebung zu untersuchen. Ein Kommentar aus dem Publikum bezog sich auf Marcellos Estevãos Ausführungen, dass die Krise noch nicht so schlimm sei wie in den 1990er Jahren: Ein Teilnehmer machte deutlich, dass in den 1990er Jahren einige dramatische Ausreißer bei den Schuldenindikatoren den Durchschnitt in die Höhe getrieben hätten, dass aber insgesamt die Lage damals der heutigen sehr ähnele. Er befürchtete, dass sich wieder eine Haltung einstelle, die dafür sorge, dass Krisen nicht zeitig, sondern zu spät gelöst würden. Eine andere Frage befasste sich mit der Klassifizierung von Ländern und was getan werden müsse, damit auch Mittel- und Hocheinkommensländer – wie etwa manche Inselstaaten – besser Zugang zu Schuldenerleichterungen erhalten. Denn obwohl auch sie von Überschuldung bedroht seien, würden sie sich aufgrund ihres Pro-Kopf-Einkommens derzeit nicht für erleichternde Maßnahmen qualifizieren. Walton Webson brachte in diesem Kontext den Multidimensionalen Vulnerabilitätsindex der Vereinten Nationen ins Gespräch. Er machte deutlich, dass ein Vulnerabilitätsindex Teil eines Verfahrens zur Schuldenrestrukturierung sein müsse. Den Abschluss der Veranstaltung lieferte Patricia Miranda mit einem Statement zur Verantwortung der globalen Gemeinschaft, Lösungen nicht weiter aufzuschieben.

Wir danken allen Kooperationspartner*innen für die gute Organisation, den Kolleg*innen von Engagement Global für ihre Gastfreundschaft, dem Publikum für die angeregte Diskussion sowie insbesondere den Referent*innen für ihre Inputs!

Die Aufnahme der Veranstaltung kann in voller Länge in unserem YouTube-Kanal abgerufen werden.