5. Juli 2022

Expert*innen-Interviews: Nationale Gesetze gegen Schuldenkrisen

Um eine öffentliche Debatte über verbindliche Regeln für effizientere Umschuldungen anzustoßen, haben erlassjahr.de und die Friedrich-Ebert-Stiftung Deutschland zwei Videos mit renommierten Expert*innen auf dem Gebiet der Staatsschulden veröffentlicht: Lee C. Buchheit (Entschuldungsexperte mit mehr als 40 Jahren juristischer Praxis bei Staatsschuldenrestrukturierungen), Anna Gelpern (Georgetown University) und Matthias Goldmann (EBS Universität Wiesbaden). Sie erklären, wie nationale Gesetze in den G7-Staaten zur Bewältigung von Schuldenkrisen beitragen könnten, indem sie es privaten Gläubigern unmöglich machen könnten, multilateral vereinbarte Umschuldungen zu unterlaufen.

„Das Problem ist, dass wir heute in vielerlei Hinsicht vor großen Herausforderungen stehen, die von einem finanziell gesunden und soliden Staat abhängen. Und diese finanzielle Stabilität hängt von einer sehr kleinen Gruppe von relativ reichen Investoren aus relativ wenigen Industrieländern ab.“

Matthias Goldmann

Die COVID-19-Pandemie hat die Notwendigkeit eines finanziell gesunden und soliden Staates deutlich gemacht. Gleichzeitig hat sie auch die globale Schuldenkrise weiter angeheizt. Derzeit sind 135 von 148 Ländern des globalen Südens hoch verschuldet (siehe Schuldenreport 2022), dreimal so viele wie vor der Pandemie. Die Auswirkungen der russischen Invasion in der Ukraine und der weltweite Zinsanstieg werden die Risiken einer Schuldenkrise in den Ländern des Globalen Südens weiter verschärfen. Mehr als 60 Prozent aller Forderungen gegenüber Ländern des Globalen Südens werden von privaten Gläubigern gehalten. Um die Schulden in den kritisch verschuldeten Ländern zu reduzieren, ist daher entscheidend, dass auch private Gläubiger zur Beteiligung an Schuldenerlassen verpflichtet werden. Während der Corona-Pandemie wehrten sie sich jedoch erfolgreich dagegen.

Die meisten internationalen Anleiheverträge werden nach Londoner oder New Yorker Recht abgeschlossen. Daher haben die G7-Staaten sowohl die Möglichkeit als auch die Verantwortung, sich auf Maßnahmen und Ziele zu einigen, die eine verbindliche Einbeziehung der privaten Gläubiger gewährleisten können. Die Regierungsvertreter der G7 – darunter auch die deutsche Bundesregierung – wissen, dass die Nichtbeteiligung privater Gläubiger eines der Haupthindernisse bei der Lösung der Schuldenkrise ist. Sie sollten daher auf einer gleichwertigen Beteiligung privater Gläubiger an Schuldenrestrukturierungen bestehen. Doch anstatt ihre Gesetzgebungsbefugnisse zu nutzen, verlassen sie sich einseitig und bisher mit wenig Erfolg auf „moralische Überzeugungsarbeit“.

Die deutsche G7-Präsidentschaft im Jahr 2022 kommt zu einem wichtigen Zeitpunkt, an dem entscheidende Schritte in Richtung effektiver und umfassender Schuldenrestrukturierungen unternommen werden können. Ein Vorschlag verschiedener Akteure, einschließlich zivilgesellschaftlicher Organisationen, ist die Einführung nationaler Gesetze in den G7-Ländern, die es privaten Gläubigern unmöglich machen, multilateral vereinbarte Umschuldungen zu unterlaufen.

„Im Moment haben wir ein System, in dem ein Land in seiner volatilsten Phase dafür verantwortlich ist, all diese Menschen zu koordinieren, die keinen Anreiz haben, ihre Forderungen abzuschreiben. Das ist ein bisschen verkehrt, nicht wahr?“

Anna Gelpern

Nach Meinung von Buchheit, Gelpern und Goldmann können in Ermangelung internationaler Insolvenzmechanismen Anti-Holdout-Gesetze auf nationaler Ebene eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, Schuldenumstrukturierungen effektiver zu gestalten und private Gläubiger zur Teilnahme an Umschuldungen zu zwingen.

Wirksame Anti-Holdout-Gesetze könnten unterschiedlicher Gestalt sein, erklären die Expert*innen in den Interviews (siehe Videos):

  1. Ein Gesetz kann regeln, dass Forderungen nur in der Summe eingetrieben werden können, die die Gläubiger erhalten hätten, wenn sie sich regulär an einer multilateralen Umschuldung beteiligt hätten. Ein Beispiel hierfür ist das britische Schuldenerlassgesetz, das für Länder gilt, die von der Initiative für hochverschuldete arme Länder (Heavily Poor Countries Initiative, HIPC)  profitiert haben.
  2. Ein Gesetz kann dazu dienen, die Zahlungssysteme zu schützen.
  3. Ein Gesetz kann die Vollstreckungsrechte privater Gläubiger einschränken, indem staatliche Vermögenswerte von der Vollstreckung durch Gläubiger abgeschirmt werden (Vermögensimmunität).
  4. Ein Gesetz kann kodifizieren, dass Gläubiger in gutem Glauben zusammenarbeiten müssen.

Kritisch verschuldete Länder erwirtschaften nicht genug Einkommen, um Zinsen und Tilgung zu zahlen. Sie müssen weitere Kredite aufnehmen, um Rückzahlung zu leisten. So steigen die Auslandsschulden weiter an. Systemische und strukturierte Mechanismen zur Reduzierung der Staatsschulden sind die einzige Möglichkeit, diese Situation zu bewältigen. Die Institutionen des Privatsektors sind jedoch entschlossen, dieses unsolide Finanzsystem aufrechtzuerhalten.

Zentrale Herausforderungen wie die Energieunsicherheit und die Klimakrise sowie Armut, Gesundheitskrisen und Ungleichheit können nur von einem finanziell gesunden und soliden Staat angegangen werden. Deutschland, das in diesem Jahr die G7-Präsidentschaft innehat, spielt eine wichtige Rolle dabei, die Agenda voranzubringen.

„Die G7-Länder könnten eine wichtige Rolle spielen, wenn sie ein gemeinsames Konzept für Anti-Holdout-Gesetze entwickeln könnten.“

Lee C. Buchheit

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