Wie hängen faire Entschuldung und Menschenrechtsfragen zusammen? Und an welchen Punkten können Entschuldungsbewegung und Menschenrechtsgruppen noch enger zusammenarbeiten? Diese Fragen waren Anlass, unsere Jahrestagung 2024 unter den Titel „Menschenrechte statt Schuldendienst!“ zu stellen. Vom 13. bis 15.09.2024 diskutierten knapp 40 Teilnehmende in der Europa-Jugendherberge Saarbrücken. Darunter waren zu unserer großen Freude neben Vertreter*innen mehrerer Mitträgerorganisationen auch viele neue Gesichter. Die Tagung fand in Kooperation mit dem Netzwerk Entwicklungspolitik im Saarland e. V. statt.
Fachlicher Einstieg und kunstvolle Reflektionen
Am Freitagnachmittag begann unsere Politische Referentin Malina Stutz mit dem vorgeschalteten „Schuldeneinmaleins“ – ein traditioneller Bestandteil jeder erlassjahr.de-Jahrestagung, der auch dieses Jahr wieder gut besucht wurde und den Einstieg ins komplexe Thema Staatsschulden gerade für Neu- und Wiedereinsteiger*innen erleichtert.
Zum „richtigen“ Start in die Tagung am Freitagnachmittag präsentierte dann unsere Politische Koordinatorin Kristina Rehbein den Stand der aktuellen Schuldenkrise. Dabei wies sie unter anderem auf den massiven Abfluss von Ressourcen für den Schuldendienst hin. Dadurch fehlten vielen Staaten im Globalen Süden die Mittel für wichtige Entwicklungsinvestitionen. Für besonders viel Kopfschütteln im Publikum sorgten die Ergebnisse aktueller Umschuldungsverhandlungen: In allen Länderfällen, z. B. in Suriname, Sambia oder der Ukraine, waren die gewährten Schuldenerlasse viel zu niedrig und wurden zudem von Gläubigerseite noch schöngerechnet. Dass dadurch keine nachhaltige wirtschaftliche Erholung möglich ist und die Rechte der Menschen in den betroffenen Ländern massiv verletzt werden – interessiert die Gläubiger eher wenig.
Nach diesem fachlichen Einstieg gab es abends noch etwas für die Sinne: Basti vom Körperfunkkollektiv führte uns mit dem Stück „Wohlstandsparadox“ in die Methode des Radioballets ein. Dabei setzten alle Teilnehmenden Kopfhörer auf und bekamen darüber Musik, anregende Gedanken und Handlungsanweisungen zu hören. Thema des Stücks war die Auseinandersetzung mit den Begriffen „arm“ und „reich“. Auch persönliche Erfahrungen und Einschätzungen spielten dabei eine Rolle. Das Stück regte im Anschluss zu regen Diskussionen an, die wir nur unterbrechen konnten, indem Basti noch eine besondere Perle aus seinem Repertoire hervorholte: Das Stück „Pommes“, geschrieben von Kindern, war weniger etwas für den Kopf, sondern mehr für die Lach- und Schreimuskeln, und war damit ein wunderbarer Ausklang für den Tag.
Menschenrechte und Schuldenkrisen
Am Samstagvormittag stiegen die Teilnehmenden dann tiefer in den Themenbereich Menschenrechte ein: Jonas Schubert vom Forum Menschenrechte/terre des hommes gab zur Einführung einen umfassenden Überblick über die ethische und historische Herleitung von Menschenrechten und die unterschiedlichen Menschenrechts-Konventionen. Im Anschluss thematisierte Dr. Matthias Goldmann von der EBS Universität für Wirtschaft und Recht verschiedene Zusammenhänge von Staatsverschuldung und Menschenrechtsfragen. Insbesondere erläuterte er, wie Staatsschuldenkrisen Menschenrechte gefährden können. Aber er thematisierte auch, dass die Aufnahme von Krediten durchaus zur Entwicklung von Gesellschaften und zur Verwirklichung von Menschenrechten beitragen könne. Ein Beispiel dafür sei der rapide Ausbau des Schienennetzes Mitte des 19. Jahrhunderts im späteren Deutschen Reich, der durch riesige Kredite finanziert worden war. Spannend war abschließend die Frage, inwiefern Muster-Gerichtsprozesse, geführt von besonders betroffenen Staaten, dazu beitragen könnten, die Berücksichtigung von Menschenrechten in der internationalen Schuldenpolitik durchzusetzen.
Belohnen Schuldenerlasse menschenrechtsverletzende Regime?
In der anschließenden Fishbowl-Diskussion diskutierten die Teilnehmenden kontrovers über die Rolle von Schuldenerlassen im Kontext korrupter, autoritärer und menschenrechtsverletzender Regime. Einerseits wurde herausgestellt, dass Schuldenerlasse – wie auch andere Arten finanzieller Unterstützung – diktatorische Regime unterstützen können. Andererseits stellten Teilnehmende klar, dass Schuldenerlasse zu mehr Autonomie in verschuldeten Ländern führen und die freiwerdenden finanziellen Ressourcen demokratische Prozesse stärken können. Wie so oft in der Schuldenpolitik gab es auch hier keine pauschalen, einfachen Antworten: Auf die besonderen Umstände im Einzelfall kommt es an.
Spielerisch ging es in der Mittagspause weiter: Beim „Finanzpolitischen Spaziergang“, angeleitet von Jean-Philippe Baum vom Netzwerk Entwicklungspolitik im Saarland, schlüpften die Teilnehmenden in die Rollen von Bankiers, Investitionsprojekten und Anleger*innen. Lauthals gefeilscht wurde um die besten, profitabelsten und ethischsten Anlagemöglichkeiten. Am Ende konnten sich einige der „guten“ Projekte gegen die Profitinteressen des Kapitals und die Rüstungsindustrie durchsetzen – ein kleiner Erfolg, den wir uns so auch für die reale Bankenwirtschaft wünschen!
Von der Länderebene zur globalen Ebene
Am Samstagnachmittag ging es mit der ersten Workshopphase weiter. Einen Einblick in die Auswirkungen des gläubiger-dominierten Umgangs mit Schuldenkrisen auf die Menschenrechte gewährte Ermiza Tegal, Rechtsanwältin und engagiert im Yukthi-Collective Sri Lanka. Sie legte dar, welche Auswirkungen die Maßnahmen haben, die die sri-lankische Regierung im Rahmen eines für die Umschuldung verpflichtenden Programms des Internationalen Währungsfonds (IWF) auf die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rechte der Menschen hat. Auch viele neoliberale und einschränkende Gesetze seien im Schatten der Umschuldung geschaffen worden. Aber sie betonte auch, welche Rolle soziale Bewegungen im Widerstand gegen diese Maßnahmen spielen können und berichtete dabei von ihrer eigenen Arbeit als Rechtsanwältin.
Amelie Fischer, ehemalige Redakteurin eines feministischen Magazins und zuletzt Praktikantin bei erlassjahr.de, bot in ihrem Workshop Einblicke in feministische Perspektiven auf faire Entschuldung. Dabei diskutierte sie mit den Teilnehmenden unter anderem die Auswirkungen von Austeritätsmaßnahmen im Kontext von Schuldenkrisen auf die Rechte von Frauen, Kindern und anderen vulnerablen Gruppen. Anhand ausgewählter Texte erarbeiteten sich die Teilnehmenden, welche Folgen eine massive Sparpolitik auf diese Gruppen in Ländern wie Argentinien oder Ghana hat – und welche Forderungen feministische Gruppen an die Reform der internationalen Finanzarchitektur stellen. So müssten etwa auch die Schuldentragfähigkeitsanalysen des IWF mit einer feministischen Brille betrachtet und angepasst werden.
Einen Blick auf die globale Ebene und die Rolle der Vierten Internationalen UN-Entwicklungsfinanzierungskonferenz 2025 (FfD4) für die Stärkung einer menschenrechtsbasierten Entschuldungspolitik warfen Eva Hanfstängl von Social Justice in Global Development und Malina Stutz in ihrem Workshop. Im Zentrum standen hier zivilgesellschaftliche Forderungen für FfD4, einschließlich der Entwicklung einer verbindlichen Staatsschuldenkonvention.
Nach so viel Input und Diskussionen wurde der Tag mit einer Filmvorführung abgerundet. Der Dokumentarfilm „Dear Future Children“ aus dem Jahr 2022 begleitete drei Aktivistinnen aus Hongkong, Chile und Uganda in ihrem Kampf für Menschenrechte, Demokratie und Klimaschutz. Ein Film voller erschreckender und auch berührender Szenen, der sicher niemanden kalt gelassen hat.
Die Arbeit von erlassjahr.de – Rückblick, Ausblick und Planung
Der Sonntag startete mit einer Präsentation unserer Öffentlichkeitsreferentin Elise Kopper und Kristina Rehbein. Die beiden ließen die letzten 10 Monate seit der letzten Jahrestagung Revue passieren, warfen einen Blick auf die Struktur unseres Bündnisses, auf politische Prozesse, bei denen erlassjahr.de involviert war, auf die Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit sowie auf geplante Schwerpunkte und Aktivitäten. Besonders erfreulich war in diesem Jahr, dass wir mit dem Kirchenkreis eine neue, sehr engagierte Mitträgerinstitution gewinnen konnten. Highlights waren auch die Verleihung des BMZ-Engagementpreises an erlassjahr.de-Mitgründer Jürgen Kaiser im Mai in Bonn sowie die Jubiläumsaktion anlässlich “25 Jahre Kölner Kette” im Juni in Köln.
Um die Planung der anstehenden Aktivitäten zu konkretisieren, fanden sich die Teilnehmenden im Anschluss erneut in drei Arbeitsgruppen zusammen. In einer der Gruppen wurde besprochen, wie das Thema Menschenrechte in die zukünftige Arbeit von erlassjahr.de noch stärker eingebunden werden kann. Eine zweite Gruppe beschäftigte sich mit Ideen für die weitere Umsetzung der aktuellen Kampagne „Mit Schulden fair verfahren!“, auch mit Blick auf die Bundestagswahl und das Erlassjahr 2025. In der dritten Gruppe ging es um das Erreichen junger Zielgruppen; hier wurde mit der „Personas“-Methode gearbeitet. Als besonderer Gast war in dieser Arbeitsgruppenphase ein Journalist der Saarbrücker Zeitung zugegen, der O-Töne von den Teilnehmenden einholte und Malina Stutz zum Thema der Tagung interviewte – wir freuen uns sehr über die Berichterstattung!
Abschied aus dem Bündnisrat
Zum Ende der Tagung standen schließlich die Mitträgerversammlung und damit auch die Wahlen zum Bündnisrat auf dem Programm. Peter Lanzet von Südwind e. V. stellte sich nach vielen Jahren in Bündnisrat und Lenkungsrat nicht mehr zur Wahl und will sich nun noch stärker dem Opa-Dasein widmen. Lieber Peter, wir danken dir SEHR für deine engagierte, fachkundige und immer kollegiale Mitarbeit und sind froh, dass du auch weiterhin als Gast in die BR-Arbeit reinschnuppern willst! Alle weiteren Mitglieder wurden für die nächste Amtsperiode des Bündnisrats bestätigt. Wir freuen uns darauf, die gute Zusammenarbeit fortsetzen zu können.
Nach dem Ende der Jahrestagung kamen der frisch gewählte Bündnisrat sowie einige Gäste zu einer offenen Bündnisratssitzung zusammen. Dabei standen unter anderem die Auswertung der Jahrestagung sowie erste Ideen für die Jahrestagung 2025 auf der Tagesordnung. Nach drei langen, intensiven und spannenden Tagen voller neuer Erkenntnisse und Begegnungen galt es am Sonntagnachmittag Abschied zu nehmen von Saarbrücken.
Wir danken an dieser Stelle ganz herzlich allen Referent*innen und Teilnehmenden der Jahrestagung für die guten Diskussionen, die informativen Inputs und die kreativen Beiträge! Ein besonderer Dank geht außerdem an das Netzwerk Entwicklungspolitik im Saarland e. V. für die äußerst angenehme Kooperation, an das Team der Europa-Jugendherberge Saarbrücken und die Verantwortlichen für die Veranstaltungstechnik.
Sehen wir uns im nächsten Jahr in Bonn wieder?
Save the date: Die erlassjahr.de-Jahrestagung 2025 findet vom 07. bis 09. November 2025 in Bonn statt. Tragt euch den Termin gerne schon in eure Kalender ein – weitere Infos folgen im Laufe des ersten Halbjahres.
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