Unter dem Titel „Keine Profite auf Kosten der Ärmsten!“ appellierten heute mehr als 60 Organisationen an Bundesfinanzminister Christian Lindner, einen Entwurf für ein Safe Harbor-Gesetz vorzulegen. Damit sollen private Gläubiger wie Investmentbanken oder Vermögensverwalter verpflichtet werden, sich an Schuldenerleichterungen für Länder des Globalen Südens zu beteiligen. Der Offene Brief wurde von erlassjahr.de initiiert und von 66 Organisationen, Gruppen und Institutionen unterzeichnet, darunter die Kirchlichen Entwicklungsdienste der Ev. Landeskirchen in Baden sowie in Braunschweig und Hannovers, die Romero Initiative, die Christians for Future Deutschland, das Eine Welt Netz NRW, SODI e. V., WEED e. V. sowie etliche Eine Welt-Gruppen und kirchliche Institutionen bundesweit.
Der Brief kritisiert, dass private Gläubiger sich nur unzureichend an Schuldenerleichterungen beteiligen, obwohl sie rund 60 Prozent der Forderungen gegenüber Ländern des Globalen Südens halten.
Neue Studie belegt Notwendigkeit für Gesetzgebung
Warum das ein massives Problem ist, verdeutlicht eine kürzlich veröffentlichte Studie der britischen NGO Debt Justice: Sie analysiert alle bisherigen Schuldenrestrukturierungen seit Beginn der Corona-Pandemie und zeigt, dass private Kreditgeber selbst nach den Restrukturierungen noch immer rund 14 Milliarden US-Dollar Gewinn machten. Zudem wiederholt sich das altbekannte Muster: Private Gläubiger wie BlackRock oder die Deutsche Bank werden gegenüber öffentlichen Gläubigern bevorzugt. In fünf von sechs Fällen erhalten sie mehr zurück als öffentliche Akteure – im Durchschnitt sind es ganze 28 Prozent. Die Profite der Privaten gehen damit sowohl auf Kosten der Bevölkerung in den Schuldnerländern als auch auf Kosten der Steuerzahler*innen in den Gläubigerländern – und damit auch in Deutschland. Genau deshalb hatte auch die FDP in ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2021 versprochen (S. 50), private Gläubiger „stärker in die Verantwortung [zu] nehmen“.
Im Offenen Brief heißt es:
Eine Lösung für dieses Problem wäre, in Staaten des Globalen Nordens Gesetze zu verabschieden, die eine ausreichende Beteiligung privater Gläubiger an Schuldenrestrukturierungen erzwingen. In Deutschland wäre das ein sogenanntes „Safe-Harbor-Gesetz“. Ein solches Gesetz würde den Betrag, den private Gläubiger in Deutschland einklagen und vollstrecken können, auf den Umfang beschränken, der in internationalen Verhandlungen vereinbart wurde. Dies würde auch die internationale Finanzarchitektur fairer und verlässlicher gestalten. Die gute Nachricht ist: Ein solches Gesetz ist realisierbar und könnte noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden.
Expert*innen aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Rechtspraxis und Politik unterstützen Anliegen
Die Grundlage dafür ist bereits gelegt. erlassjahr.de hat eine detaillierte Analyse vorgelegt, die wesentliche Elemente für ein solches Gesetz skizziert. Rechtswissenschaftler*innen haben konkrete Gesetzesentwürfe erarbeitet. Auch eine kürzlich von der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) veröffentlichte Studie unterstreicht, dass die Verabschiedung eines solchen Gesetzes in Deutschland ein effektives Mittel ist, um private Gläubiger in die Pflicht zu nehmen.
Auch bei der Hamburg Sustainability Conference, die Anfang Oktober 2024 stattfand, stand das Thema auf der Tagesordnung: erlassjahr.de hatte dort gemeinsam mit der Friedrich-Naumann-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Expert*innen-Diskussion unter dem Titel „Legislative Measures for Successful Sovereign Debt Restructuring“ organisiert. Die anwesenden internationalen Expert*innen und Parlamentarier*innen aus Deutschland und Ghana waren sich einig, dass nationale Gesetze einen substanziellen Beitrag zur Verbesserung der globalen Schuldenarchitektur leisten können.
Gesetzesentwurf noch bis Ende des Jahres gefordert
Gemeinsam mit den 66 unterzeichnenden Organisationen, Gruppen und Institutionen aus ganz Deutschland fordern wir deshalb Christian Lindner als zuständigen Minister auf, jetzt aktiv zu werden und noch bis Ende des Jahres einen Gesetzesentwurf für ein Safe Harbor-Gesetz vorzulegen. Dann könnte das Gesetz noch in dieser Legislaturperiode im Bundestag verabschiedet werden.
Mit der Übermittlung des Briefes haben wir den Finanzminister zudem um ein persönliches Gespräch zu diesem Anliegen gebeten. Bereits Ende September hatten wir einen persönlichen Termin mit Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze, bei dem wir ihr mehr als 2.000 unterschriebene Postkarten mit der Forderung nach einem Staateninsolvenzverfahren überreichen konnten. Nun liegt es an Christian Lindner, hier nachzuziehen und sich auf den Dialog mit der Zivilgesellschaft einzulassen.
Weitere Informationen:
- Offener Brief an Bundesfinanzminister Lindner (29.10.2024): „Keine Profite auf Kosten der Ärmsten: Private Gläubiger jetzt per Gesetz in die Pflicht nehmen“
- erlassjahr.de-Pressemitteilung (29.10.2024): „Offener Brief an Bundesfinanzminister Lindner: Organisationen fordern Safe Harbor-Gesetz“
- erlassjahr.de-News-Beitrag (11.10.2024): „Hamburg Sustainability Conference: Diskussion zum Einbezug privater Gläubiger bei Schuldenstreichungen durch nationale Gesetzgebung“
- Studie von Debt Justice UK (Oktober 2024): “Analysing outcomes from debt restructurings”
- erlassjahr.de-Pressemitteilung (27.09.2024): „Forderung nach einem Staateninsolvenzverfahren: Entschuldungsbündnis erlassjahr.de übergibt Unterschriften an Bundesentwicklungsministerin Schulze“
- erlassjahr.de-News (26.07.2024): “Schuldenkrise ungelöst: Warum der Bondholder-Deal der Ukraine kaum hilft”
- GIZ-Studie (Mai 2024): „Statutory and Policy Measures to Enhance Private Sector Participation in Sovereign Debt Restructurings”
- erlassjahr.de-Blog (10.04.2024): „Zwielichtige Personen im Rechtsstreit zwischen Sri Lanka und der Hamilton Reserve Bank“
- erlassjahr.de-Fachinformation 71 (2023): „Das Potenzial nationaler Gesetze für die faire Lösung globaler Schuldenkrisen“
- erlassjahr.de-Kampagne „Mit Schulden fair verfahren! Koalitionsvertrag umsetzen. Staateninsolvenzverfahren schaffen.“
- Forderungen und Handlungsempfehlungen an die Bundesregierung