In einer Botschaft an den Vorstand und die Gouverneur*innen des Internationalen Währungsfonds (IWF) protestieren Nichtregierungsorganisationen und weitere Entwicklungsexpert*innen aktuell aus der ganzen Welt – darunter erlassjahr.de – gegen die Praxis der sogenannten „Surcharges“ ((Zins-)Aufschläge). Mit diesen belegt der IWF Länder, die in besonderen Notlagen sind und deshalb stärker als gedacht auf IWF-Kredite zurückgreifen müssen.
Seit 2009 muss jedes kreditnehmende Land zusätzliche Gebühren für seine Kredite vom IWF zahlen, wenn es a) Kredite über die dem Land zustehenden Obergrenze (die so genannte „Quote“) hinaus aufnimmt und zusätzlich b) die Kredite länger als vereinbart in Anspruch nimmt. Für Zeitüberschreitungen werden umgerechnet 1 Prozent und für Quotenüberschreitungen jeweils 2 Prozent fällig.
Der Sinn dieser Strafzinsen besteht darin, Länder von der übermäßigen Inanspruchnahme der IWF-Mittel – die allen Mitgliedern dienen sollen – abzuhalten. Im Ergebnis führt das allerdings dazu, dass der IWF Extraeinnahmen aus genau denjenigen Ländern erzielt, die auf seine Mittel in besonderer Weise angewiesen sind. Damit wirken die Surcharges krisenverschärfend – und widersprechen der Kernaufgabe des IWF, Ländern vorübergehend Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, „ohne auf Maßnahmen zurückzugreifen, die den nationalen oder internationalen Wohlstand angreifen“.
So resultieren Zeitüberschreitungen häufig aus externen Schocks wie Naturkatastrophen oder dem Einbruch fest eingeplanter Einnahmen, beispielsweise aus dem Tourismus infolge der Covid-19-Restriktionen. Die Überschreitung der Quote ist dagegen nicht das Ergebnis unvorhersehbarer Ereignisse, sondern von Vereinbarungen, die der IWF selbst unterschrieben hat.
Gleichzeitig finanziert der IWF mit diesen Einnahmen aber auch rund ein Drittel seines nicht unbeträchtlichen operativen Budgets. Dieses wird damit zu einem wesentlichen Teil durch genau diejenigen IWF-Mitglieder aufgebracht, die per definitionem dazu eigentlich am wenigsten in der Lage sind: eine immens krisenverschärfende Maßnahme. Die Pandemie und die Notwendigkeit, massiv globale Liquidität bereitzustellen, sind damit durch die gleichzeitig nicht ausgesetzten Surcharges-Regeln auch zu einer lukrativen Gewinnmöglichkeit des IWF geworden.
Prominentes Beispiel: Argentinien
Prominentestes Beispiel ist der größte Kredit der IWF-Geschichte, den der IWF auf Druck der US-amerikanischen Trump-Regierung 2018 der konservativen argentinischen Regierung unter Präsident Macri eingeräumt hatte, damit diese sich vor den Wahlen von 2019 die Loyalität des Wahlvolks sichern konnte. Doch die Mittel wurden hauptsächlich von reichen Argentinier*innen zur Kapitalflucht genutzt, Macri verlor die Wahl, und die heutige Regierung von Präsident Alberto Fernández muss nicht nur Schulden beim IWF in Höhe von mehr als 40 Milliarden US-Dollar bedienen. Weil der Kredit nicht der maximal möglichen 185 Prozent, sondern knapp 1.000 Prozent der Quote entspricht, muss Argentinien einen satten Strafzins zahlen: Surcharges machen mehr als die Hälfte der Kreditkosten an den IWF aus, mehr als 4 Milliarden Euro fließen allein an Surcharges an den IWF. Argentinien war aufgrund der eigenen drastischen Betroffenheit auch seit 2020 der Hauptakteur, der die Öffentlichkeit auf die Surcharges-Politik aufmerksam machte.
Protest der Zivilgesellschaft
Seit Beginn der Pandemie stieg die Zahl der von Surcharges betroffenen Länder auf 16 an, bis 2025 sollen es nach IWF-eigenen Schätzungen 38 Länder sein. Unter den größten fünf etwa Ägypten, welches absehbar von den Auswirkungen der russischen Invasion in der Ukraine auf Weizenexporte und steigende Preise für das Exportgut besonders dramatisch betroffen sein wird. Oder die Ukraine, die bis 2023 mehr als 400 Millionen US-Dollar allein an Surcharges zahlen muss, neben seinen anstehenden Schuldendienstzahlungen, die allein in diesem Jahr bei mehr als 7 Milliarden US-Dollar liegen. Der IWF hat bislang für die Ukraine zwar neue Kreditmittel in Milliardenhöhe mobilisiert, aber keine Aussetzung oder Streichung der Surcharges angeboten.
Mit der Aktion „Eliminate IMF surcharges immediately“ richten sich Zivilgesellschaft und Wissenschaft nun weltweit an den IWF und seine mächtigen Mitglieder und fordern eine Abschaffung der skandalösen Zinsaufschlag-Politik. Der Brief kann von interessierten Organisationen und Einzelpersonen unterschrieben werden.
Auch der Pariser Club profitiert in einer ähnlichen Weise
In ähnlicher Weise profitiert auch der Pariser Club von der Not hochverschuldeter Länder.
Anders als der IWF kommuniziert der Pariser Club seine Zinsaufschlagspolitik jedoch nicht öffentlich, sondern berechnet Strafzinsen auf Zahlungsverzüge hinter verborgenen Türen. Öffentlich wurde dies im Fall Argentiniens, das dem Pariser Club im Mai 2021 eigentlich 2,2 Milliarden US-Dollar aus dem letzten Umschuldungsabkommen von 2014 hätte zahlen müssen. Zusätzlich berechnete der IWF 234 Millionen US-Dollar an Zinsen, was einem Aufschlag von 9 Prozent auf den eigentlich vereinbarten Umschuldungszinssatz entspricht. Argentinien hatte wegen der erst im Januar 2022 getroffenen Vereinbarung mit dem IWF nicht die Mittel, um neben den umgeschuldeten Privatforderungen und den laufenden Zahlungen an den IWF auch die Gläubiger im Pariser Club pünktlich zu bedienen. Statt dem Land in dieser schwierigen Situation mit einer erneuten Umschuldung entgegenzukommen, berechnet der Club einen Strafzins von 9 Prozent, der weit jenseits aller Refinanzierungskosten der Gläubiger liegt (bis Ende 2021 lagen die Zinsen für die öffentlichen Haushalte der Industrieländer um den Nullpunkt). Die Bundesregierung spielt dabei eine besonders prominente Rolle, denn gegenüber dem Pariser Club ist Argentinien einer der größten Schuldner, und Deutschland ist dessen größter öffentlicher bilateraler Gläubiger. Rund die Hälfte des Zinsaufschlags – also etwa 100 Millionen US-Dollar – streicht damit das Bundesfinanzministerium ein.
Im März 2022 läuft Argentiniens Karenzzeit für den eigentlich im Februar fälligen Betrag aus. Dann muss Argentinien entweder in voller Höhe zahlen, eine erneute Zahlungsverschiebung zu erneut 9 Prozent Zinsaufschlag erbitten oder sich als offiziell im Zahlungsausfall befindlich erklären lassen. Für die Versuche des Landes, nach der mühsamen Einigung mit dem IWF vorsichtig wieder Zugang zum Kapitalmarkt zu bekommen, wäre das Gift.
Ein weiteres von der 9 Prozent-Praxis betroffenes Land ist Kuba. Unter dem Eindruck des Tourismuseinbruchs in der Corona-Pandemie konnte die Karibikinsel ihre laufende Zahlung aus ihrem Abkommen mit dem Pariser Club von 2015 nicht leisten. Eher beiläufig wurde öffentlich, dass auch hier die wucherischen 9 Prozent stillschweigend draufgeschlagen wurden.
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