Wie Politiker zu Zombies werden

„Das schwache Auftreten der griechischen Regierung ändert nichts an dem Skandal, der darin besteht, dass sich die Politiker in Brüssel und Berlin weigern, ihren Kollegen aus Athen als Politiker zu begegnen. Sie sehen zwar wie Politiker aus, lassen sich aber nur in ihrer ökonomischen Rolle als Gläubiger sprechen. Diese Verwandlung in Zombies hat den Sinn, der verschleppten Insolvenz eines Staates den Anschein eines unpolitischen, vor Gerichten einklagbaren privatrechtlichen Vorgangs zu geben.“

Dieser Satz bringt einen langen Artikel von Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung vom Mittwoch auf den Punkt: Der Philosoph beklagt aus kluger Einsicht, dass Politik von Merkel und Co nicht mehr gemacht wird, weil diese bedeuten müsste, die Zukunft der Europäischen Union zu verteidigen. Alles was die Bundesregierung und in ihrem Windschatten die anderen Europäer verteidigen, sind aber ihre jeweils individuellen Gläubigerinteressen. Politiker bräuchte man dafür eigentlich nicht. Ein ausreichend rücksichtsloses Inkasso-Unternehmen täte es auch.

Nur aus der Inkasso-Perspektive ist das Augen Verschließen vor der Unausweichlichkeit eines nächsten Schuldenschnitts erklärlich. Würde jemand Politik im europäischen – oder auch nur im aufgeklärten nationalen – Interesse machen würde er jede Gelegenheit nutzen, das Unausweichliche so schnell, schmerzlos und erfolgreich wie möglich zu organisieren. Der ganze, sehr lesenswerte Kommentar findet sich hier.

Merkel: "Was in Griechenland passiert ist, wird nicht noch einmal geschehen."

In der FTD vom 6.12. wird die Bundeskanzlerin unmittelbar nach dem Eurogipfel mit diesen Worten zitiert. Was hat sie damit gemeint?

Meint sie, dass es zu überhaupt keiner Krise diese Art jemals mehr kommen wird? Das wäre  ganz im Sinne des „Dieses Mal ist alles anders“ – Syndroms, an dem die Regierungschefin ebenso leidet, wie die meisten ihrer Kollegen. Beharrlich haben sie zusammen so getan, als sei die Krise nur ein bedauerlicher Ausrutscher, den man nun mit viel frischem Geld in den Griff bekommen könnte, und keinesfalls ein systemisches Problem, dass sich alle paar Jahre u.a. in Staatsschuldenkrisen irgendwo auf dem Globus niederschlägt.

Das hat sie in diesem Fall aber nicht gemeint.

Der Zusammenhang ihrer Aussage – so gibt die FTD es wider – ist vielmehr die Diskussion um ein geordnetes Insolvenzverfahren, welches als Konzept mit den Beschlüssen des EU-Gipfels von Anfang Dezember nun vom Tisch sei. „Merkel zog damit die Konsequenzen aus den negativen Marktreaktionen auf die Privatsektorbeteiligung in Griechenland,“ schreibt das Blatt. Im Klartext: Koalitionsvertrag hin oder her – wir als Bundesregierung werden nicht nur niemals die privaten Investoren für ihre Fehlentscheidungen zur Kasse bitten. Wir werden künftig nicht einmal mehr drüber reden.

Viel schöner kann man einen Freibrief zum Risikoinvestment nicht mehr ausstellen.

Theoretisch hätte die Kanzlerin aus der Krise und ihrem eigenen verfehlten Krisenmanagement tatsächlich eine Menge lernen können: Dass man über Privatsektorbeteiligung nicht reden, sondern sie schnell und radikal genug durchführen muss, wie es Lee Buchheit jüngst ausdrückte, ein New Yorker Anwalt, der an praktisch allen Schwellenländer-Umschuldungen der letzten 15 Jahre entscheidend beteiligt war.

Hätten Deutschland und die anderen Europäer nicht den Banken einen Blankoscheck ausgestellt, sondern z.B. den Griechen für die Zeit unmittelbar nach einem umfassenden Schuldenschnitt – vorausgesetzt dieser ist ordentlich ausgehandelt und von ausreichenden Reformen im Innern begleitet – hätte aus das den europäischen Steuerzahler auch einiges Geld gekostet; aber mit Sicherheit weniger als der Blankoscheck für die „systemrelevanten“ Großbanken. Und die europäischen Steuerzahler hätten sich nicht in deren Geiselhaft wieder gefunden.

Dass sich an der von den Europäischen Regierungen mühsam vereinbarten Privatsektorbeteiligung in Griechenland (zunächst 21%, dann 50% Schuldenschnitt), niemand mehr beteiligen will, wie Reuters heute meldet, ist die Quittung, die Frau Merkel von den Investoren nun zu recht bekommt.

Glaubt Rogoff!

Es ist ermutigend zu beobachten, wie sich auch auf den Kommentarseiten der Financial Times Deutschland die Erkenntnis durchsetzt, dass sich die finanzielle Lebensfähigkeit einiger Eurostaaten ohne einen geordneten Schuldenschnitt nicht wiederherstellen lassen wird. Das war in der ersten Phase der europäischen Staatsschuldenkrise noch etwas ambivalenter, und die Lieblingsargumente der Gläubiger – z.B. „wer eine Option auf eine geregelte Insolvenz haben will, bekommt ab sofort keinen Kredit mehr“ – tauchte auch in internen wie externen Kommentaren der „Agenda“-Seiten auf.
Inzwischen gewinnt die Einsicht, dass es ohne Schnitt nicht gehen wird, die Oberhand, und das ist ein gutes Ergebnis für eine durchaus offen ausgetragene Debatte. Der vorletzte und seit langem beste Beitrag dazu stammt von dem Harvard-Professor und ehemaligen IWF-Chefökonomen Ken Rogoff.
Der Kommentar trägt den Titel „Zweite Halbzeit der Krise“ und ist im Netz unter http://www.ftd.de/politik/konjunktur/:staatspleitenpanik-rogoff-jetzt-kommt-die-zweite-halbzeit-der-euro-krise/50202775.html zu finden, Die englische Originalfassung kann auch unter www.project-syndicate geladen werden.
Rogoff spricht die Punkte an, denen sich auch die EU-Verantwortlichen werden stellen müssen, wenn sie 2013 (oder womöglich früher) tatsächlich Staatspleiten nicht mehr mit Mitteln aus dem Europäischen Rettungsfonds übertünchen können:
• Die drastischen Sparprogramme drohen die PIGS-Staaten in genau die gleiche Art von „verlorenem Jahrzehnt“ zu schicken, wie es Lateinamerika zwischen 1982 und 1990 durchlebte; seinerzeit bestand das Hauptinteresse der westlichen Gläubigerstaaten auch zuallererst darin, die eigenen Banken und (US-)Sparkassen über Wasser zu halten. Damit diese aus den verschuldeten Ländern weiterhin Geld bekamen, wurden in großem Stil öffentliche Mittel in die bereits zahlungsunfähigen Staaten gepumpt und mit ebenso rigiden wie desaströsen Strukturanpassungsprogrammen verknüpft.
• Die Bundeskanzlerin hat als einzige europäische Regierungschefin erkannt und beizeiten offen gesagt, dass die kontinuierliche Refinanzierung von Schuldendienst keine Lösung sein kann, und Europa deshalb einen Insolvenzmechanismus braucht.
• Leugnen der Krise war noch nie eine gute Strategie – und selten wurde so heuchlerisch geleugnet wie beim EU-Bankenstresstest, im letzten Frühjahr. Umgekehrt kann die europäische Bankenkrise durchaus bewältigt werden, wenn die notwendigen Abschreibungen und Forderungsverzichte durchgesetzt werden.
• Mit dem Rettungsfonds hat Europa bereits unwiderruflich einen bedeutenden Teil der faulen Kredit sozialisiert. Selbst wenn der wünschenswerte Schuldenschnitt kommt, wird er nur noch zum Teil die eigentlichen Zocker treffen. Ein Teil trifft bereits die öffentlichen Haushalte. Das aber unterstreicht gerade die Notwendigkeit, einen Schuldenschnitt so bald wie möglich umzusetzen. Auch in Lateinamerika zeigte sich im Nachhinein, dass ein frühzeitiger Schnitt unter’m Strich für fast alle die bessere Lösung gewesen wäre als die praktizierte Insolvenzverschleppung.

Vom Sinn und Unsinn eines europäischen Staateninsolvenzverfahrens

Am vergangenen Samstag bekam die Kanzlerin ihren Willen: In ihrer zweiten Arbeitsphase wird sich die Arbeitsgruppe der EU-Finanzminister unter dem Vorsitz von Herman van Rompuy mit der Schaffung eines geordneten Insolvenzverfahrens für EU-Staaten beschäftigen.
Hintergrund: Im April 2010 musste die Bundesregierung zur Abwehr einer umfassenden Bankenkrise in großem Stil öffentliche Mittel zur Rettung der in Griechenland exponierten deutschen und europäischen Banken bereitstellen. Weil der Rest Europas sich danach mit der Institutionalisierung eines hauptsächlich von Deutschland und Frankreich finanzierten Europäischen Rettungsfonds für insolvente Staaten sehr gut anfreunden konnte, war die Bundeskanzlerin unter erheblichem Druck, Alternativen zu einem permanenten Bail-out europäischer Staaten – genauer gesagt: von deren Gläubigern – zu finden.
Sie tat dazu das einzig richtige, indem sie auf die Schaffung eines geordneten Insolvenzverfahrens drängte, welches im Ernstfall auch zu Verlusten für die in den betroffenen Ländern engagierten (privaten) Gläubigern führen würde. Allerdings trat die Bundesregierung dabei so tollpatschig auf, dass sie selbst erhebliche Widerstände gegen ihren Vorschlag produzierte: Als in der eigens eingerichteten Arbeitsgruppe der EU-Finanzminister unter Vorsitz des Ratspräsidenten van Rompuy die Frage eines Insolvenzverfahrens zum Tragen kam, gab es nicht einmal einen schriftlichen Vorschlag der Deutschen, sondern lediglich Sprechzettel des Finanzministers.
Im Mai wurden dann sehr allgemeine Leitsätze auf der Homepage des BMF veröffentlicht. Und erst im September wurde der deutsche Vorschlag erstmals in einem (vertraulichen) Papier so dingfest gemacht, dass andere Regierungen und eine Öffentlichkeit (die das Papier, weil vertraulich, aber eigentlich gar nicht kennen durfte), sich dazu verhalten konnte.
Im Kern läuft der deutsche Vorschlag auf ein zweistufiges Verfahren hinaus. Die erste Stufe besteht aus einem Tausch der Staatsanleihen eines potenziell zahlungsunfähigen EU-Mitglieds gegen geringer bewertete Papiere. Dieser Haircut soll den Gläubigern dadurch versüßt werden, dass die neuen Papiere durch EU-Mittel abgesichert werden. Wie schon beim „Brady-Plan“, der eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der lateinamerikanischen Schuldenkrise in den 80er Jahren spielte, sollen die Gläubiger Nennwert gegen Sicherheit tauschen. Damals hat das leidlich gut funktioniert – allerdings betrugen die Abschläge in einigen Ländern mehr als 50% des Nennwerts, was heutzutage im EU-Kontext kaum vorstellbar ist.
In der zweiten Stufe soll dann – wenn die erste Stufe die Tragfähigkeit der Schulden des betreffenden Landes nicht wiederherzustellen vermag – ein eigentliches Insolvenzverfahren folgen, d.h. die Reduzierung aller Verbindlichkeiten des betreffenden Landes in einem Planverfahren. Anders als die erste Stufe ist die zweite in dem Papier der Bundesregierung aber noch höchst vage formuliert.
Beim EU-Gipfel Ende Oktober setzen die Deutschen die Befassung mit ihrem Vorschlag in der zweiten Arbeitsphase der van Rompuy-Arbeitsgruppe durch. Die Kanzlerin machte sich, als sie die Grundlage dafür in trauter Zweisamkeit mit Präsident Sarkozy schuf, nicht nur Freunde in Europa, aber sie bekam ihren Willen. Allerdings blieben einige ihrer ohnehin nicht sonderlich durchdachten Lieblingsideen dabei auf der Strecke:
• „Berliner Club“ wird die neue Institution nicht heißen. Das kam in Frankreich, wo man auf die ungeschmälerte Kompetenz des bereits bestehenden „Pariser Clubs“ allergrößten Wert legt, nicht gut an.
• Auch der Begriff „Insolvenzverfahren“ ist aus dem Sprachgebrauch verschwunden. Statt dessen spricht man nun von „der Einbeziehung des Privatsektors“. Gemeint ist, wie Berliner Ministeriale versichern, aber dasselbe.
• Überschuldete Staaten mit dem Entzug ihrer EU-Stimmrechte unter Druck zu setzen, wie von den Deutschen propagiert, war nicht nur ökonomisch eine kontraproduktive Schnapsidee. Es demonstrierte überdies eine vordemokratische Denkweise, welche Mitbestimmungsrechte am wirtschaftlichen Status festmacht. Zum Glück ließ der Rest Europas, sich das von Berlin nicht bieten.
Bis Anfang 2011 erarbeitet die van Rompuy-Arbeitsgruppe unter deutscher Federführung einen Vorschlag, der noch vor Abschluss der Beitrittsverhandlungen mit Kroatien im kommenden Frühjahr zu einer Veränderung des Vertrags von Lissabon führen soll.
Aus der Sicht der weltweiten Entschuldungsbewegung ist der deutsche Vorschlag sehr ambivalent:
▪ Positiv ist, dass eine Schuldenreduzierung zulasten der Privatanleger nicht mehr – wie noch im April bei der Griechenland-Rettung – ausgeschlossen wird.
▪ Es ist auch denkbar, dass die erste Stufe des deutschen Vorschlags tatsächlich zu einem modifizierten europäischen Rettungsmechanismus führen wird. Und es darf gehofft werden, dass unter den besonderen Bedingungen des Euro-Raumes, eine nächste Griechenland-Krise damit im Ansatz entschärft werden kann.
▪ Ein echtes Staateninsolvenzverfahren allerdings, das nicht nur Fälligkeiten umstrukturiert, sondern dem betreffenden Land einen tatschälichen Neuanfang ermöglicht, ist regional gar nicht umsetzbar. Schließlich ist Griechenland nicht nur bei solchen Gläubigern verschuldet, die sich direkt oder indirekt auf der Grundlage der Verträge von Lissabon zu einer Schulden-Restrukturierung zwingen lassen. Von anderen essenziellen Elementen eines rechtsstaatlichen Verfahrens wie unparteiischer Entscheidungsfindung und unparteiischer Bestimmung des Erlassbedarfs gar nicht zu reden.
▪ Negativ ist politisch, dass die Deutschen ihre zwischenzeitlich angekündigte Initiative im G20-Kreis für ein Staateninsolvenzverfahren, welches allen überschuldeten Staaten zugute kommen könnte, erst mal wieder auf Eis gelegt haben. Hier kann nur weiterer politischer Druck dafür sorgen, dass die Bundesregierung ihren eigenen Koalitionsvertrag so ernst nimmt, wie es ihrer nicht nur Europa-sondern weltpolitischen Verantwortung entspricht.

Kleiner Schock für's (Kirchentags-)Leben

Mit den Kolleg/innen des Globalisierungsforums müssen wir am Donnerstag Morgen noch mal in den „AWD-Dome“, die größte Veranstaltungshalle des Kirchentags, um mit der Hallenleitung Einzelheiten unseres Forums an den folgenden drei Tagen zu besprechen. Auch für Menschen mit unserem „Mitarbeitenden“–Status ist es nicht ganz leicht, in die Halle zu kommen. Zum einen ist sie, als wir morgens gegen 11 kommen, schon gut gefüllt, denn hier findet eine Veranstaltung mit der Bundeskanzlerin statt. Zum anderen ist der Bühnenbereich doppelt abgesperrt. Hinter einer helferbewehrten Sperre sitzen Menschen, die nach Taschen- und Gesichtskontrolle bis hier vorgelassen wurden. Hinter einer weiteren Sperre in den ersten Reihen vor der Bühne allerlei mittelprächtige Prominente.
Eine von uns überwindet auch diese Sperre, macht den Hallenleiter ausfindig, und regelt für uns, was zu regeln ist. Da brandet am Saaleingang plötzlich Beifall auf. Menschen erheben sich von ihren Stühlen, grelles Kameralicht auf den Mittelgang. Von ganz hinten betritt SIE den Saal und schreitet umringt von den üblichen Gorillas und Medienmenschen nach vorn. Der Beifall verebbt nach und nach von hinten nach vorn.
Wir sehen uns an, und fragen uns wo wir hier sind. Gestern abend lief in der ARD eine nett gemachte Chronik des Kirchentags mit einigen der Highlights widerspenstiger Veranstaltungen, bei denen ein Helmut Schmidt für seine Anregung, die Kirche solle sich gefälligst aus der Tagespolitik raushalten und sich lieber im Allgemeinen ergehen, schon mal eindrucksvoll ausgepfiffen wurde.
Verdammt lang her! (Wobei Schmidt-Schnauze hier und jetzt auch wieder mit von der Partie ist)
Wir retten uns schließlich in eine Art Verschwörungstheorie: Sicher hat Merkel’s Partei dafür gesorgt, dass ausreichend Claqueure im Saal sitzen, und wenn man es dann richtig einfädelt,kriegt man es hin, dass tatsächlich alle aufstehen – schon um die kleine Dame überhaupt noch sehen zu können. Ach, möge es doch so gewesen sein!